Neujahrslied

Wer kömmt! Wer kauft von meiner War'!

Devisen auf das neue Jahr,

Für alle Stände.

Und fehlt auch einer hie und da,

Ein einz'ger Handschuh paßt sich ja

An zwanzig Hände.


Du Jugend, die du tändelnd liebst,

Ein Küßchen um ein Küßchen gibst,

Unschuldig heiter.

Jetzt lebst du noch ein wenig dumm;

Geh nur erst dieses Jahr herum,

So bist du weiter.


Die ihr schon Amors Wege kennt

Und schon ein bißchen lichter brennt,

Ihr macht mir bange.

Zum Ernst, ihr Kinder, von dem Spaß!

Das Jahr! zur höchsten Not noch das,

Sonst währt's zu lange.


Du junger Mann, du junge Frau,

Lebt nicht zu treu, nicht zu genau

In enger Ehe.

Die Eifersucht quält manches Haus

Und trägt am Ende doch nichts aus

Als doppelt Wehe.
[39]

Der Witwer wünscht in seiner Not,

Zur sel'gen Frau durch schnellen Tod

Geführt zu werden.

Du guter Mann, nicht so verzagt!

Das, was dir fehlt, das, was dich plagt,

Findst du auf Erden.


Ihr, die ihr Misogyne heißt,

Der Wein heb euern großen Geist

Beständig höher.

Zwar Wein beschwöret oft den Kopf,

Doch der tut manchem Ehetropf

Wohl zehnmal weher.


Der Himmel geb zur Frühlingszeit

Mir manches Lied voll Munterkeit,

Und euch gefall es.

Ihr lieben Mädchen, singt sie mit,

Dann ist mein Wunsch am letzten Schritt,

Dann hab ich alles.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 37-40.
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