Der wahre Genuß

[40] Umsonst, daß du, ein Herz zu lenken,

Des Mädchens Schoß mit Golde füllst.

O Fürst, laß dir die Wollust schenken,

Wenn du sie wahr empfinden willst.

Gold kauft die Zunge ganzer Haufen,

Kein einzig Herz erwirbt es dir;

Doch willst du eine Tugend kaufen,

So geh und gib dein Herz dafür.


Was ist die Lust, die in den Armen

Der Buhlerin die Wollust schafft?

Du wärst ein Vorwurf zum Erbarmen,

Ein Tor, wärst du nicht lasterhaft.[40]

Sie küsset dich aus feilem Triebe,

Und Glut nach Gold füllt ihr Gesicht.

Unglücklicher! Du fühlst nicht Liebe,

Sogar die Wollust fühlst du nicht.


Sei ohne Tugend, doch verliere

Den Vorzug eines Menschen nie!

Denn Wollust fühlen alle Tiere,

Der Mensch allein verfeinert sie.

Laß dich die Lehren nicht verdrießen,

Sie hindern dich nicht am Genuß,

Sie lehren dich, wie man genießen

Und Wollust würdig fühlen muß.


Soll dich kein heilig Band umgeben,

O Jüngling, schränke selbst dich ein.

Man kann in wahrer Freiheit leben

Und doch nicht ungebunden sein.

Laß nur für eine dich entzünden,

Und ist ihr Herz von Liebe voll,

So laß die Zärtlichkeit dich binden,

Wenn dich die Pflicht nicht binden soll.


Empfinde, Jüngling, und dann wähle

Ein Mädchen dir, sie wähle dich,

Von Körper schön und schön von Seele,

Und dann bist du beglückt wie ich!

Ich, der ich diese Kunst verstehe,

Ich habe mir ein Kind gewählt,

Daß uns zum Glück der schönsten Ehe

Allein des Priesters Segen fehlt.


Für nichts besorgt als meine Freude,

Für mich nur schön zu sein bemüht,

Wollüstig nur an meiner Seite

Und sittsam, wenn die Welt sie sieht.[41]

Daß unsrer Glut die Zeit nicht schade,

Räumt sie kein Recht aus Schwachheit ein,

Und ihre Gunst bleibt immer Gnade,

Und ich muß immer dankbar sein.


Ich bin genügsam und genieße

Schon da, wenn sie mir zärtlich lacht,

Wenn sie beim Tisch des Liebsten Füße

Zum Schemel ihrer Füße macht,

Den Apfel, den sie angebissen,

Das Glas, woraus sie trank, mir reicht

Und mir bei halb geraubten Küssen

Den sonst verdeckten Busen zeigt.


Wenn in gesellschaftlicher Stunde

Sie einst mit mir von Liebe spricht,

Wünsch ich nur Worte von dem Munde,

Nur Worte, Küsse wünsch ich nicht.

Welch ein Verstand, der sie beseelet,

Mit immer neuem Reiz umgibt!

Sie ist vollkommen, und sie fehlet

Darin allein, daß sie mich liebt.


Die Ehrfurcht wirft mich ihr zu Füßen,

Die Wollust mich an ihre Brust.

Sieh, Jüngling, dieses heißt genießen.

Sei klug und suche diese Lust!

Der Tod führt einst von ihrer Seite

Dich auf zum englischen Gesang,

Dich zu des Paradieses Freude,

Und du fühlst keinen Übergang.
[42]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 40-43.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
(Gedichte. Nachlese)
Die Leiden des jungen Werther: Reclam XL - Text und Kontext
Faust: Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust
Faust Eine Tragödie: Erster und zweiter Teil
Die Leiden des jungen Werther (insel taschenbuch)
Königs Erläuterungen: Textanalyse und Interpretation zu Goethe. Die Leiden des jungen Werther. Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Musteraufgaben mit Lösungen

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Robert Guiskard. Fragment

Robert Guiskard. Fragment

Das Trauerspiel um den normannischen Herzog in dessen Lager vor Konstantinopel die Pest wütet stellt die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft. Kleist zeichnet in dem - bereits 1802 begonnenen, doch bis zu seinem Tode 1811 Fragment gebliebenen - Stück deutliche Parallelen zu Napoleon, dessen Eroberung Akkas 1799 am Ausbruch der Pest scheiterte.

30 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon