[Nur wenig ist's, was ich verlange]

[91] Nur wenig ist's, was ich verlange,

Weil eben alles mir gefällt,

Und dieses wenige, wie lange,

Gibt mir gefällig schon die Welt!


Oft sitz ich heiter in der Schenke

Und heiter im beschränkten Haus;

Allein sobald ich dein gedenke,

Dehnt sich mein Geist erobernd aus.


Dir sollten Timurs Reiche dienen,

Gehorchen sein gebietend Heer,

Badakschan zollte dir Rubinen,

Türkise das Hyrkansche Meer.


Getrocknet honigsüße Früchte

Von Bochara, dem Sonnenland,

Und tausend liebliche Gedichte

Auf Seidenblatt von Samarkand.


Da solltest du mit Freude lesen,

Was ich von Ormus dir verschrieb,

Und wie das ganze Handelswesen

Sich nur bewegte dir zulieb;


Wie in dem Lande der Brahmanen

Viel tausend Finger sich bemüht,

Daß alle Pracht der Indostanen

Für dich auf Woll und Seide blüht;


Ja, zu Verherrlichung der Lieben,

Gießbäche Soumelpours durchwühlt,

Aus Erde, Grus, Gerill, Geschieben

Dir Diamanten ausgespült;
[92]

Wie Taucherschar verwegner Männer

Der Perle Schatz dem Golf entriß,

Darauf ein Divan scharfer Kenner

Sie dir zu reihen sich befliß;


Wenn nun Bassora noch das Letzte,

Gewürz und Weihrauch, beigetan,

Bringt alles, was die Welt ergetzte,

Die Karawane dir heran.


Doch alle diese Kaisergüter

Verwirrten doch zuletzt den Blick;

Und wahrhaft liebende Gemüter

Eins nur im andern fühlt sein Glück.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 91-93.
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