[192] Wenn der Mensch daran denken soll, von Ereignissen, die ihn zunächst betreffen, künftigen Geschlechtern Nachricht zu hinterlassen, so gehört dazu ein gewisses Behagen an der Gegenwart, ein Gefühl von dem hohen Werte derselben. Zuerst also befestigt er im Gedächtnis, was er von Vätern vernommen,[192] und überliefert solches in fabelhaften Umhüllungen; denn mündliche Überlieferung wird immer märchenhaft wachsen. Ist aber die Schrift erfunden, ergreift die Schreibseligkeit ein Volk vor dem andern, so entstehen alsdann Chroniken, welche den poetischen Rhythmus behalten, wenn die Poesie der Einbildungskraft und des Gefühls längst verschwunden ist. Die späteste Zeit versorgt uns mit ausführlichen Denkschriften, Selbstbiographien unter mancherlei Gestalten.
Auch im Orient finden wir gar frühe Dokumente einer bedeutenden Weltausbildung. Sollten auch unsere heiligen Bücher später in Schriften verfaßt sein, so sind doch die Anlässe dazu als Überlieferungen uralt und können nicht dankbar genug beachtet werden. Wie vieles mußte nicht auch in dem mittlern Orient, wie wir Persien und seine Umgebungen nennen dürfen, jeden Augenblick entstehen und sich trotz aller Verwüstung und Zersplitterung erhalten! Denn wenn es zu höherer Ausbildung großer Landstrecken dienlich ist, daß solche nicht einem Herrn unterworfen, sondern unter mehrere geteilt seien, so ist derselbe Zustand gleichfalls der Erhaltung nütze, weil das, was an dem einen Ort zugrunde geht, an dem andern fortbestehen, was aus dieser Ecke vertrieben wird, sich in jene flüchten kann.
Auf solche Weise müssen, ungeachtet aller Zerstörung und Verwüstung, sich manche Abschriften aus frühern Zeiten erhalten haben, die man von Epoche zu Epoche teils abgeschrieben, teils erneuert. So finden wir, daß unter Jesdedschird, dem letzten Sassaniden, eine Reichsgeschichte verfaßt worden, wahrscheinlich aus alten Chroniken zusammengestellt, dergleichen sich schon Ahasverus in dem Buch Esther bei schlaflosen Nächten vorlesen läßt. Kopien jenes Werkes, welches »Bastan Nameh« betitelt war, erhielten sich: denn vierhundert Jahre später wird unter Mansur I., aus dem Hause der Samaniden, eine Bearbeitung desselben vorgenommen, bleibt aber unvollendet, und die Dynastie wird von den Gasnewiden verschlungen. Mahmud jedoch, genannten Stammes zweiter Beherrscher, ist von gleichem Triebe belebt und[193] verteilt sieben Abteilungen des »Bastan Nameh« unter sieben Hofdichter. Es gelingt Ansari, seinen Herrn am meisten zu befriedigen, er wird zum Dichterkönig ernannt und beauftragt, das Ganze zu bearbeiten. Er aber, bequem und klug genug, weiß das Geschäft zu verspäten und mochte sich im stillen umtun, ob er nicht jemand fände, dem es zu übertragen wäre.
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West-östlicher Divan
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