Ferdusi

[194] Starb 1030


Die wichtige Epoche persischer Dichtkunst, die wir nun erreichen, gibt uns zur Betrachtung Anlaß, wie große Weltereignisse nur alsdann sich entwickeln, wenn gewisse Neigungen, Begriffe, Vorsätze hie und da, ohne Zusammenhang, einzeln ausgesäet, sich bewegen und im stillen fortwachsen, bis endlich früher oder später ein allgemeines Zusammenwirken hervortritt. In diesem Sinne ist es merkwürdig genug, daß zu gleicher Zeit, als ein mächtiger Fürst auf die Wiederherstellung einer Volks- und Stammesliteratur bedacht war, ein Gärtnersohn zu Tus gleichfalls ein Exemplar des »Bastan Nameh« sich zueignete und das eingeborene schöne Talent solchen Studien eifrig widmete.

In Absicht, über den dortigen Statthalter wegen irgendeiner Bedrängnis zu klagen, begibt er sich nach Hofe, ist lange vergebens bemüht, zu Ansari durchzudringen und durch dessen Fürsprache seinen Zweck zu erreichen. Endlich macht eine glückliche, gehaltvolle Reimzeile, aus dem Stegreife gesprochen, ihn dem Dichterkönige bekannt, welcher, Vertrauen zu seinem Talente fassend, ihn empfiehlt und ihm den Auftrag des großen Werkes verschafft. Ferdusi beginnt das »Schah Nameh« unter günstigen Umständen; er wird im Anfange teilweis hinlänglich belohnt, nach dreißigjähriger Arbeit hingegen entspricht das königliche Geschenk seiner Erwartung keineswegs. Erbittert verläßt er den Hof und stirbt, eben da der König seiner mit Gunst abermals gedenkt.[194] Mahmud überlebt ihn kaum ein Jahr, innerhalb welches der alte Essedi, Ferdusis Meister, das »Schah Nameh« völlig zu Ende schreibt.

Dieses Werk ist ein wichtiges, ernstes, mythisch-historisches Nationalfundament, worin das Herkommen, das Dasein, die Wirkung alter Helden aufbewahrt wird. Es bezieht sich auf frühere und spätere Vergangenheit, deshalb das eigentlich Geschichtliche zuletzt mehr hervortritt, die früheren Fabeln jedoch manche uralte Traditionswahrheit verhüllt überliefern.

Ferdusi scheint überhaupt zu einem solchen Werke sich vortrefflich dadurch zu qualifizieren, daß er leidenschaftlich am Alten, echt Nationellen festgehalten und auch in Absicht auf Sprache frühe Reinigkeit und Tüchtigkeit zu erreichen gesucht, wie er denn arabische Worte verbannt und das alte Pehlewi zu beachten bemüht war.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 194-195.
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