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[278] Es kömmt Angst, und über jedes eine andere
Die Base begann stark zu kränkeln und ernsthaft, die Füße liefen ihr auf, der Husten plagte sie, die Nächte waren ohne Schlaf. Das sei eine beginnende Brustwassersucht, sagte der Arzt. Wenn man Fleiß habe, die Mittel gebrauche, hoffe er[278] der Krankheit zuvorzukommen, tröstete er. Die Base schüttelte dazu den Kopf; Mutter und Großmutter seien ungefähr im gleichen Alter an der gleichen Krankheit gestorben, das Gleiche werde ihr auch warten, sagte sie zum ebenfalls Hoffnung machenden Vreneli. »Es ist nicht, daß ich das Sterben scheue; ach Gott, wie vielem bin ich entronnen, wenn ich einmal im Grabe ruhe; aber was soll aus den Meinen werden? Da ist meine Sünde, und da werde ich hart gestraft. Was ist sterbenden Eltern der beste Trost? Wenn sie ihre Familie so hinterlassen können wie einen gesunden Baum, der, gesund in Wurzeln und Ästen, langes Leben und ein hohes Alter verspricht, wenn die Kinder so sind, daß man weiß, man kömmt einst wieder zusammen. Nun weißt, wie ich es habe, habe keine Hoffnung«, und gar bitterlich weinte die Base. »Denn,« sagte sie, »ich bin an allem viel selbst schuld. Ich habe gemeint, mit dem Alter komme der Verstand, wo die Kinder dann von selbst einsehen würden, was recht sei. Ich zankte nicht gerne mit Joggeli, der große Freude an ihnen hatte, ihnen alles nachließ, dachte, das werde sich später schon machen. Ich ließ sie beten, aber ob sie in die Kirche gingen oder nicht, darum kümmerte ich mich nicht; konnte ich doch selbst nicht viel gehen, eine Bäurin hat so viel zu tun! Dachte, man könne sonst fromm sein und recht tun, wenn man schon nicht in die Kirche gehe, man sei ja unterwiesen worden und wisse, was man solle und nicht solle, so dachte ich. Später sah ich, daß ich unrecht gedacht, wollte nachbessern und konnte nicht. Ich mochte sagen, was ich wollte, so hörten sie mich nicht oder begriffen mich nicht, lachten mich endlich gar aus, weil so altväterisches Zeug nicht mehr passe in die heutige Zeit. Von der Welt waren ihre Herzen voll, das hatte ich sorglos zugelassen; als ich später den rechten Samen ausstreuen wollte, hatte er nicht Platz darin, fand den guten Boden nicht, Dornen und Disteln hatten[279] bereits ihn bedeckt. Ihr Trachten war auf die Augenlust, Fleischeslust, die Hoffart des Lebens gestellt; ich konnte lange reden, ich predigte tauben Ohren und predige noch heutzutage tauben Ohren. Was soll aus meinen Kindern, was soll erst aus ihren Kindern werden? Bin froh, es nicht erleben zu müssen, und doch graut mir vor dem Sterben, hätte so gerne noch was für sie getan. Denk, wenn sie sterben und am Ende ihnen die Augen aufgehen über ihr Elend und sie dann sagen: Daran ist unsere Mutter auch schuld. Oder wenn sie kommen an den Ort der Qual und ich sie da sehen müßte und denken in alle Ewigkeit: Daran bist du auch schuld, könnte da wohl ein Himmel für mich sein? Was soll aus Joggeli werden? Ist in vielen Sachen ganz wie ein Kind; hat er noch einige Jahre zu leben, so bringen sie ihn rein um seine Sache. Ihr dauert mich auch, denn was sie jetzt Joggeli alles angeben werden, kann man sich denken. Macht ja, daß ihr immer den Zins geben könnt; dein Mann soll sich losmachen von denen beiden Burschen, wo immer mit dem Maul zahlen wollen, sonst geht es nicht gut. So ist, wohin ich sehe, bloß Trübes und Trauriges; ich bin froh, es nicht erleben zu müssen, und sollte es doch gut machen helfen, dieweil ich auch schuld daran bin. Ach, ich kann nicht sagen: Vater, es ist vollbracht; wenn ich nicht die Hoffnung hätte, daß Gott gelinder strafe, als man es verdient, daß bei ihm möglich sei, was Menschen unmöglich scheinet, daß er alles zum Besten leite, sieh, ich verzweifelte noch in meinen letzten Tagen. Härter liegt nichts auf dem Herzen, glaub es mir, als zwei Kinder zu sehen im Rachen der Welt, der Pforte der Hölle, und an den Armen keine Hände zu haben, sie herauszuziehen.«
Vreneli wollte trösten, aufrichten, aber wie schwer ist das nicht, wenn man das Herz selbst voll hat zum Zerspringen und wenn es einem dünkt, die Klagen seien wahr, in gleicher Lage wäre es einem ebenso! Was hatten sie zu erwarten, wenn[280] die Base starb, und wen hatte Vreneli noch auf der Welt, bei dem es Rat und Trost schöpfen, sein Herz ergießen konnte, seit Uli seinen Glauben seinen Götzen zugewandt, ungläubig gegen Vreneli geworden war? Es wußte nichts, als mit der Base zu weinen, sie zu bitten, guten Mutes zu sein, ihr Leben zu fristen solange als möglich, seinetwegen, denn wenn sie mal im Grabe sei, dann sei ihr Stern erloschen und das Elend vor der Tür. Es hätte nicht umsonst Gotte sein müssen einem armen Fraueli und sich entsetzen über dessen Armütigkeit, es wisse jetzt, daß es sich dazu vorbereiten solle, und dies wolle es tun alle Tage, denn dahin werde es mir ihnen kommen, wenn nicht noch weiter, jammerte Vreneli. »Du guter Tropf« sagte die Base, »wenn es mir besser drum wäre, fast müßte ich lachen. Ihr habt noch nichts erlebt; wem geht es immer wie gewünscht, ohne Angst und Anstand? Glaubst, ihr wäret die Einzigen, welche nicht Lehrgeld zahlen müssen in der Welt, welche Torheit büßen müssen oder welchen Gott handgreiflich darlegt, daß man sich nicht auf Menschen verlassen müsse noch auf des Menschen Herrlichkeit? Wenn ihr hier schon nichts verdient oder noch dazu um alles kommt, was ihr habt, ich habe doch nicht Kummer um euch wegen Durchschlagen durch die Welt. Du und Uli werden ihr Brot allenthalben finden, solang ihr euern guten Namen habt, dafür wirst du sorgen. Bereite dich, noch viel Härteres zu ertragen! Was kömmt, nimm immer mit Dank auf, daß es nicht härter ist, und mache dich wieder auf Härteres gefaßt. Sorge nur dafür, daß du die Kleinen dem zubringst, der da gesagt hat: Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich. Absonders dieses da, mein klein Schätzeli,«sagte die Base und drückte das kleine Vreneli, welches auf ihrem Schoße saß, an ihr Herz.
Das kleine Mädchen war ihre Freude auf der Welt, so gleichsam das einzige Blümlein, welches einem alten Gärtner[281] übrig blieb. Das Kind vergalt diese Liebe treulich. Vom frühen Morgen an war es drüben und mußte abends zumeist schlafend heimgetragen werden. Es war der Base kleine Aufwärterin: trug ihr hin und her, was sie bedurfte; ihre Gesellschafterin: kläpperlete mit ihr, so viel sie wollte; ihr Schulkind: sie lehrte es buchstabieren und zwar mit Sanftmut und Geduld, so daß die Kleine Fortschritte machte wie ein klein Hexelein; dazu erzählte sie ihm schöne Geschichten und redete ihm zu, was es Vater und Mutter sein solle, und das Kindlein nahm zu an Alter, Weisheit und Gnade bei Gott und bei den Menschen, und alle sagten, und wirklich nicht ohne Grund, es sei weit über sein Alter, sie hätten noch keins so gesehen. Mit dem Kinde gab sich jemand ab, und zwar nicht pedantisch mit Buchstabenzeigen bloß oder sonstiger Schulfuchserei, sondern in warmer Liebe, mit schönen Geschichten und lieblichen Worten, welche einem Kinde sind, was im Frühling den Blumen der Tau. Es verderben gar unendlich viele Kinder am Geiste, weil ihnen eben dieser warme, weiche Tau fehlt; die edelsten Keime vertrocknen, gehen nie auf. Es haben gar unendlich viele Kinder ihrer Großmutter viel mehr zu verdanken als den gelehrtesten Herren Professoren, welche oft nicht viel anders sind als vertrocknete Haarseckel.
Joggeli benahm sich eigen gegen seine Frau; er war böse über sie, zürnte ihr, daß sie krank war. Der alte Mann fühlte wohl, was sie ihm war, seine Stütze, sein Stab im Leben, und was er würde ohne sie; aber eben deswegen hätte sie nicht krank sein sollen, den Ärger darüber ließ er gleich einem unartigen Kinde an ihr aus. Bald sagte er, sie bilde sich nur ein, krank zu sein, bald schonte sie sich zu wenig, brauchte ihm nicht Arznei genug, fuhr zu wenig den Quacksalbern nach; sie hatte ihre liebe Not mit ihm. Er schleppte ihr sogar einmal einen Arzt herbei, sie wußte lange nicht, war es ein alter[282] Bettelmusikant oder ein verkleideter Kapuziner; dem Dreck nach, der rund an ihm herumlag, hätte er am ersten das Letztere sein können, in dessen die Tonsur fehlte ihm, statt dessen hatte er altes Haferstroh vom vergangenen Jahre und Bruchstücke von Hanfstengeln in seinen verwilderten Haarzöpfen, deren einige Dutzend ihm um seinen ungewaschenen Kopf hingen. Denselben hatte Joggeli einmal in einem Wirtshause erzählen hören von seiner erstaunenswürdigen Geschicklichkeit, wußte aber nicht, daß seine Frau ihm selten anders sagte als »du Hagels Lügner.« Derselbe erzählte, wie er schrecklich berühmt sei und manchmal gar nicht wisse, wie wehren; von zuhinterst in Deutschland schrieben ihm die berühmtesten Doktoren, wenn sie in Verlegenheit seien, und frügen ihn, was er meine. Er habe schon Manchen aus der Tinte gezogen, der es nicht rühmen werde, aber er habe es aufgeschrieben. So habe ihm einer geschrieben aus einer Stadt, man sage ihr nur Berlin, es sei die Hauptstadt von Rußland, derselbe sei Hofrat und heiße Schüli, und ihn gefragt, was er machen solle wegen der Cholera, die wolle kommen. Das sei eine grausame Krankheit, fange bei den Beinen an, bis zuletzt die Haare auf dem Schädel so feurig würden, daß man Schwefelhölzer daran anzünden könnte; dem habe er geschrieben, was er machen müsse, der Ketzer habe ihm noch nicht gedankt. Aber so machten sie es, die Hagle, sie behielten seine Räte, würden Hofräte, und kein Mensch in Rußland wisse, daß die Sache von ihm komme. Er habe angeraten, jedem Patienten sieben Tage, ehe bei ihm die Krankheit ausbreche, nichts zu geben als Buttermilch mit Saanenkäse, in die Maß Milch ein Pfund Käse geschabt, alle zwei Stunden eine Portion; er sei gut dafür, die Krankheit breche nicht aus. Nun sterbe in ganz Rußland kein Mensch mehr an der Cholera, da sei er gut dafür, aber dem Kaiser werde man nicht sagen, das habe Lürlipeterli angegeben; er glaube seiner Seele nicht,[283] daß er sein Lebtag je Hofrat werde. Es nehme ihn jetzt wunder, wie es ihm mit dem Papste gehe. Es hätten ihm nämlich zwei sonderbar vornehme Herren von Rom – er glaube, sie seien dem Papste verwandt, wenigstens seien sie, nach allem zu schließen, sehr gute Freunde von ihm – geschrieben. Die hätten den Star und schrieben ihm, sie hätten von ihm gehört, wie er berühmt sei im Stechen, Keiner so, und hätten das Vertrauen alleine zu ihm, er solle kommen und sie operieren; wenn er es begehre, wollten sie ihm ihre Kutsche schicken, sechsspännig, sonst solle er kommen, wie es ihm beliebe, sie wollten zahlen, bis er zufrieden sei. Gelänge ihm die Operation, so könne er ein steinreicher Mann werden, denn in Rom sei fast die Hälfte der Menschen blind von wegen dem feuerspeienden Berg, welcher dort sei, der verblende die Menschen und mache ihnen den Star, den Berg nenne man Vulkan. Er wisse nicht, ob er gehen werde, von wegen sie wären imstande und behielten ihn dort mit Gewalt, wenn sie merkten, was er könne, und das wäre ihm doch nicht anständig, er müßte vielleicht gar noch katholisch werden, und das möchte er erst zuletzt; er habe sein Lebtag keiner Religion viel nachgefragt, verschweige der katholischen. So erzählte der Doktor, und je abenteuerlicher er berichtete, desto mehr fand er Glauben und Respekt, denn die meisten Leute sind eben nicht aus der Wahrheit, haben kein Gefühl für die Wahrheit, glauben eher zehn Lügen als einer Wahrheit.
Den schleppte Joggeli seiner Frau zu, wollte, daß sie ihn brauche, denn er müsse mehr können als alle Anderen, weil man so weit herum von ihm wisse, meinte Joggeli.
Als er kam, machte er ein sehr bedenklich Gesicht und sagte: Die Sache sei böse und wohl weit gegangen, wenn einer helfen könne, so sei er es, aber er wisse nicht, gehe es noch oder gehe es nicht; der Brustkasten sei zu eng, Lunge und Leber hätten nicht mehr Platz, das gehe vielen fetten Leuten[284] so; so wie sie dicker würden, würden auch Lunge, Leber und das Herz größer, begreiflich, da werde es ihnen dann zu eng im Kasten, von wegen der wachse nicht, der sei von Knochen, und bekanntlich sei Knochen Knochen! Die Hauptsache sei nun, daß man den Kasten größer mache, damit es wieder Platz gebe; er hätte schon lange eine Maschine ersinnet, um solch zu eng gewordenen Kasten auszudehnen, aber er hätte noch keinen Schmied gefunden, welcher sie ihm zu Dank gemacht, von wegen die müsse aparte fein gemacht sein wegen des Hineinbringens, dasselbe sei nicht leicht. Einstweilen sei das Beste, die Brust alle Tage zweimal mit heißem Hundsschmalz einzureiben, das bringe sie auch auseinander, aber nur langsam. Dessentwegen müsse man auch etwas machen, um Lunge und Leber zusammenzuziehen und Platz zu machen inwendig; da sei nichts besser als alle Abend vor dem zu Bette Gehen ein Glas Branntewein und brav abführen. So hätte er einstweilen, bis er die Maschine in Gang hätte, schon Manchem geholfen, an welchem die geschicktesten Ärzte nichts hätten machen können. So schwatzte Herr Lürlipeterli, und Joggeli sperrte Maul und Nase auf über solche Weisheit, welche in Israel noch nie erhört worden. Seine Frau aber schüttelte den Kopf, wollte keinen Glauben fassen; als der Arzt fort war, sagte sie, eine solche Kuh sei ihr noch nie vor die Augen gekommen, mit dem solle er sie ruhig lassen.
Joggeli war böse darüber, klagte sehr, es wäre seiner Frau noch gut zu helfen, aber sie mache sich so köpfig, daß nichts mit ihr anzufangen sei. Die gute Mutter wußte wohl, daß ihr Übel nicht zu heben, bloß der Verlauf desselben zu erleichtern sei; dafür hatte sie einen Arzt, der freilich weder Hundsschmalz noch Branntwein verordnete. Ihren Kindern hätte sie gerne geholfen, ihnen die Augen aufgetan fürs Zeitliche und Leibliche, auf bessere Wege sie geführt, aber alle ihre[285] Mühe war vergeblich. Die Juden meinten, als Jesus ihnen ein, mal die Wahrheit sagte: »Das sind harte Worte, wer mag sie hören?« und gingen hinter sich. Nun gibt es viele Naturen, welche christliche Worte nicht mehr vertragen mögen, so wenig wie verdorbene Magen tüchtige Speise; Widerwillen und Ekel läuft ihnen im Munde zusammen und schüttelt den ganzen Körper. Soll man das Christentum diesen verdorbenen Magen zu lieb akkommodieren und verdünnern, bis sie es ertragen mögen, oder soll man diese hinter sich gehen lassen in Gottes Namen? Was versteht Paulus unter der Milch, welche er für Kinder bereite, und darunter, daß er allen alles werde, damit er sie Christo gewinne? Sicherlich nicht ein Verkümmern oder Verleugnen der Wahrheit, denn wer redet Menschen schärfer ins Gewissen als Paulus den Korinthern, und frägt er nicht: »Oder suche ich den Menschen gefällig zu sein? Zwar wenn ich den Menschen noch gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht, und so jemand euch ein anderes Evangelium predigt, als ihr es empfangen habt, der sei verflucht«? Mit der Akkommodation wird ein gar schmählich Spiel getrieben. Christus wird aus dem Christentum herausakkommodiert, das Christentum aus den Kirchen, uns dagegen eine Moral eingewässert, in welche jede Regierung, jeder Polizeiminister das Beliebige rührt. Eine Moral in Juristenhänden ist ein Stücklein Wachs in Schneidershänden! Bald rund, bald viereckig, bald so, bald anders wird es geknetet; es ist eine Moral, daß Gott erbarm, ob welcher die Menschen nicht bloß des Teufels werden möchten, sondern wirklich auch des Teufels werden. Es ist eine Staatsmoral, ob welcher sogenannte Staatsmänner leiblich den Hals brechen, und was dann aus ihren armen Seelen wird, ist Gott bekannt.
Dem Baumwollenhändler sagte die Mutter nichts, an dem hatte sie nichts erzogen und wußte wohl, daß man Perlen[286] nicht vor die Säue werfen soll. So einem geschliffenen Schliffel von Religion zu reden, dazu braucht es wirklich schon einen großen Mut. Selbst mit Johannes redete die Mutter nur leise und mit Zagen: Was er auch denke und wo das hinaus solle? Er und seine ganze Familie machten ihr so großen Kummer. Johannes war nicht ohne Gefühl, die Mutter war ihm immer lieb gewesen; er sagte oft, wenn sein Babi wäre wie die Mutter, er würde einen Finger von der rechten Hand geben. Aber geistige Zusprüche mochte er doch nicht, sie machten ihn wunderlich, sie krabbelten ihm in den Gliedern, er wurde ungeduldig, kriegte einen seltsamen Kitzel im Halse, daß er lachen mußte, wenn es ihm schon nicht ums Lachen war. »Mutter, habt nicht Kummer,« sagte er dann, »die Sache ist nicht halb so gefährlich, so bös gehen wird es nicht. Braucht das Doktorzeug nur gut, so wird es Euch schon bessern. Es ist schon mancher Mensch krank gewesen und ist wieder besser geworden«, und unter irgend einem Vorwande machte er sich von der Mutter weg. Mit Elisi war es aber anders, das war, als ob es ein Herz von Blech hätte; die Mutter mochte sagen, was sie wollte, es machte ihm weder kalt noch warm, es nahm weder Anteil daran noch Notiz davon, schimpfte über seinen Mann, hässelte mit den Kindern, plagte die Mutter fürchterlich mit Eifersucht gegen das große und das kleine Vreneli, sagte höchstens, sie solle doch aufhören mit ihrem Gestürm, sie mache ihm so Langeweile; dann konnte es wieder angesichts der Mutter die kindlichste Freude haben an einem Kleidungsstück, sich vor dem Spiegel hin- und her, wenden, und mitten in Hustenanfällen sollte die Mutter ihm sagen, ob es ihm nicht gut stehe, ob es ihr nicht bsonderbar gefalle? So eine Tochter zu haben, die schon Mutter mehrerer Kinder ist, das ist wirklich ein hartes Kreuz auf dem Totenbette. O Mütter, bedenkts! Und zu der Tochter eine Schwiegertochter, um kein Haar besser und auch wieder mit mehreren[287] Kindern behaftet, das war ein zweites Kreuz und ein nicht minder schweres. Trinette zwar zeigte sich nicht, Kranke besuchen war nicht ihre Liebhaberei, alte Leute verachtete sie in Bausch und Bogen. Es sei doch nichts wüster, sagte sie, als so eine alte Frau, die nichts mehr von neuen Moden wissen wolle und am liebsten ihre fünfzigjährigen Hochzeitskleider trüge. Pfi Tüfel! Einmal sie begehre nicht, so alt zu werden, oder wenn es sein müsse, denn expreß jung hängen möge sie sich doch nicht, so wolle sie dafür sorgen, daß kein Mensch wisse, wie alt sie sei; sie wisse, wie man das mache, eine alte Hebamme habe es ihr einmal gesagt; diese hätte lange in der Stadt gedient und gewußt, wie die Stadtfrauen das machten. Trinette und Elisi waren Beide ungefähr gleich blechern ums Herz. Trinette hatte vielleicht etwas mehr Energie und Elisi mehr Bosheit; sie waren wie zwei Kutschenpferde von gleichem Schlag und gleicher Farbe, von denen das eine lieber schlägt, das andere lieber beißt, eines besser ausgreift im Trott, das andere sich aber hütet, die Stricke anzuziehen. Die gute Mutter konnte nichts abbringen an ihren Kindern, konnte nichts als für sie beten, sie hatte nicht einmal den Trost, daß Joggeli aufnehmen werde, was sie umsonst versucht.
Joggeli und die Kinder redeten mit Ärger davon, wie geistlich die Mutter werde, frugen, wer Tüfel ihr das angetan, ob etwa ein Pfaff zu ihr komme oder eine Betschwester? Wenn sie wüßten, wer schuld daran wäre, dem wollten sie den Marsch machen. Sie meinten, so etwas könne bloß von außen herkommen, von diesem oder jenem, wie in der Tat oft, besonders bei Entstehen von Sekten, etwas an die Leute kömmt, sieht aus wie Christentum, ists aber nicht. Sie hatten keinen Begriff davon, daß in gesunden Gemütern ein Keim liegt, der, frühe belebt, langsam wächst, unbemerkt im Innern sich entwickelt und vielleicht erst leuchtend sichtbar wird, wenn[288] das Licht des Lebens erlöschen will. Einen solchen Keim hatten sie aber eben nicht in sich. Indem er eben nicht in ihnen war, die Welt aber ganz anderes in ihnen ausgebildet hatte, war eine Kluft zwischen ihren Gemütern entstanden fast wie zwischen dem reichen Mann und dem armen Lazarus; sie konnten nicht mehr zu einander kommen, die Mutter und die Kinder. Das hatte gewissermaßen sein Gutes, sie kamen ungern und blieben nicht lange. Die Furcht, die Mutter möchte von Vreneli ausgeplündert werden an Kleidern und Kleinodien, hatten sie nicht, so weit hatten es Beide im Vertrauen gebracht, daß man es weder dem Einen noch dem Andern zutraute.
Desto mehr war Vreneli dort, es war ihm dort wie bei einer Mutter. Es ist ein eigenes Wort: bei der Mutter sein. Es gibt Mütter, wo es den Kindern, wenn sie zur Mutter kommen, wird wie einem Küchlein, das unter die Flügel der Henne flieht, wenn es ihm zu kalt wird draußen in nassem Grase oder eine Krähe in der Nähe ist. Sind dann augenscheinlich die Tage der Mutter gezählt, macht man sich gegenseitig kein Hehl mehr daraus, dann mischen Wohl und Weh gar seltsam sich ineinander. »Will noch bei dir sein,« sagt die Tochter, »es kömmt eine Zeit, ich kann nicht mehr zur Mutter;« die Tränen rinnen, und schmerzlich zuckt das Herz zusammen. Dann wird es der Tochter wohl, fast möchten wir sagen, selig bei der Mutter, wenn die Krankheit Ruhe gibt. Beide Herzen liegen offen vor einander; was die Tochter hofft, was die Mutter wünscht, was Beide freut oder kümmert, schwillt ineinander, verwebt sich zu dem wundersamen Gemeingut, welches die Mutter hinübernimmt, die Tochter hier behält, Keine mehr, Keine minder hat, jede alles hat, welches ein kleiner Teil des großen Schatzes ist, den die Kirche Gemeinschaft der Heiligen nennt. Das ist das wundersame Gut, wo, je mehr einer hat, desto mehr er den Andern[289] gönnt, je größer die Menge der Teilnehmer wird, desto größer die Teile der Einzelnen werden, mit der Zahl der Erben das Erbteil wächst. Aus dem süßen Weh weckt wohl der Schlag der Uhr, den Verlauf der Zeit, welche kein Erbarmen kennt, verkündend. »Muß gehen«, sagt die Tochter. »Bleibe noch ein klein Weilchen, weißt nicht, wie lange es währt«, meint die Mutter. Endlich muß es doch sein, es muß die Tochter gehn, aber allemal begleitet sie bis heim der gleiche Seufzer: »Wenn die Mutter nicht mehr ist, wie wird es mir sein?«
Vreneli hatte vielfach Ursache, so zu seufzen. Wenn es daheim war, so sagte es oft: »Will zur Base gehen, kann es dort vielleicht vergessen, aber wie es gehen soll, wenn ich nicht mehr dorthin kann, das weiß ich nicht.« Es war wirklich ein bös Dabeisein; die ganze Hausgenossenschaft schien eine große Bande zu sein, Einer des Andern Feind, Einer wider alle und wiederum alle wider Einen. Sie waren vollständig in den Gesindeverruch gekommen, welcher früher schon angedeutet wurde. Was Rechtes meldete sich gar nicht mehr bei ihnen, und je schlechtere Leute Uli hatte, desto böser mußte er mit ihnen sein, desto öfter mußte er ändern, desto mühsamer und schwerer ging jede Arbeit, desto mehr ward er verrufen. Ist man mal in dieser Lage, so ist man wie verhexet, wie ein Krammetsvogel auf einer Leimrute, wie ein Mensch, der in einen Sumpf gefallen; je mehr er zappelt, desto tiefer sinkt er ein. Es verleidete Vreneli ordentlich das Leben, wenn alle Augenblicke was Neues losbrach: eine Liebesgeschichte mit bösen Folgen, eine Diebesgeschichte, von der man nicht wußte, wie weit sie reichte, und schwer auszumitteln war, ob nicht wenigstens Hehler sei, wen man des Diebstahls nicht beschuldigen konnte, eine Vernachlässigung in den Ställen, welche Uli viel Geld kostete und fast aus der Haut trieb, oder was das Allerärgste war, Leichtfertigkeit mit dem Feuer, ob[290] welcher das Haus in Feuer aufzugehen drohte. Bald hatte einer im Stall die Laterne geschneuzt, den glimmenden Docht ins Stroh geworfen, bald einer Heu gerüstet und Feuer drein gemacht, als er die Pfeife räumte, eine Magd heiße Asche an eine hölzerne Wand gestellt oder war unvorsichtig mit offenem Lichte in brennbaren Stoffen herumgefahren oder hatte Holz eingelegt wider allen Befehl, nur damit sie am Morgen eine Minute oder zwei länger faulenzen könnte. Kurz alle Augenblicke war so was los, und das höchste Wunder war, daß das Haus ihnen nicht längst über den Köpfen zusammengebrannt war. Nun ist auf der Welt kaum was peinvoller als die Angst vor Feuer, besonders wenn es Abend wird und Nacht. Man geht noch allenthalben herum und forscht, ob nichts Verdächtiges sei; hat man die Runde gemacht, so riecht man entweder was Verdächtiges oder hört Töne wie Knistern, Spretzeln und fängt die Runde von neuem an, legt sich endlich zu Bette, hat aber kaum den Kopf auf dem Kissen, so fährt man von neuem auf, denn jetzt hat man es gar zu deutlich gehört, wandert frisch im Haus herum und findet nichts, legt sich wieder nieder, schläft ein, träumt, das Haus brenne, ist an Händen und Füßen gebunden, kann nicht aus den Flammen. Hat man sich endlich nach schrecklichen Qualen freigerungen, springt auf in Schweiß gebadet, so ist all nichts, nichts als Nacht und nirgends Flammen, man hat bloß geträumt. Ja, das sind Qualen, welche nur der kennt, welcher mal diese Angst vor dem Feuer so recht im Leibe gehabt hat.
Dazu kam noch der Prozeß, welcher in vollem Gange war. Der kleine Handel war von kundigen Mäulern zu einer großen Geschichte aufgeblasen worden. Wenn Vreneli vom Feuer träumte, träumte Uli vom Prozeß, plädierte manchmal im Traume dem besten Advokaten zTrotz, redete von Terminen, Beweisen, Zeugen und Leumden. Es ging Uli, wie[291] es den Meisten geht, wenn sie zum erstenmal mit einem Prozesse behaftet werden: der Prozeß frißt sich in ihre Seele, bildet den alleinigen Mittelpunkt ihrer Gedanken. Tage-, wochenlang buchstabieren sie denselben bald vorwärts, bald rückwärts, schlagen mit einzelnen Paragraphen, welche ihr Agent sie gelehrt, wie mit Knütteln drein, verlieren Mut und Sinn für andere Sachen, kommen sich nebenbei sehr wichtig vor, dieweil sie einen Prozeß haben, welchen ja nicht jeder hat, meinen, ihr Prozeß müsse allen Menschen ungeheuer wichtig vorkommen; darum geben sie ihn männiglich zum besten, der ihnen auf Schußweite nahe kömmt. Dazu kömmt noch ein gewisses Bangen über den Ausgang; dessen sind sie im Herzen doch nicht so ganz sicher, wie ihr Mund es ausspricht, sie suchen daher dieses Bangen durch die Urteile zustimmender Menschen zu beschwichtigen. Nun werden allerdings mit seltenen Ausnahmen alle, denen man in Wirtshäusern, auf Straßen während dem Kirchengehen oder Marktgeläufe den Handel vorträgt, dem Erzähler vollkommen recht geben. »Nur ausgefahren,« wird es heißen, »du hast recht, deren Händel habe ich schon hundertmal erlebt, kenne die Sache, ds Land auf, ds Land ab Keiner besser; aber glaubst mir nicht, so frage noch Andere.« Nun geht der Prozeßmann glücklich heim, schläft diesmal ruhig, aber am andern Morgen fängt das Bangen schon wieder an zu wurmen; er läuft wieder einer Bestätigung nach, freilich keiner richterlichen, aber doch einer, welche ihm wohl macht einige Stunden und zu einer ruhigen Nacht verhilft, denn den Meisten hängt vom Ausgang eines Prozesses ihre Existenz ab. Der Wert, um den prozediert wird, mag vielleicht bloß einige Groschen betragen, aber die Kosten, welche auf den verlierenden Teil fallen, können rasch auf einige hundert Gulden steigen; die Herren Advokaten wissen noch ganz andere Rechnungen zu stellen als die Herren Schneider, welche gewöhnlich an die Rechnung[292] setzen, was sie zu wenig ans Kleid gesetzt; es ist halt so ein kleiner Verschuß, dem sie unterworfen sind, so von Handwerks wegen. Man hat Beispiele im Kanton Bern, daß Prozesse wegen einem Ei und wegen einer Strohbürde über zehntausend Gulden kosten. Ja, zehntausend Gulden machen eine Summe aus, welche ins Tuch geht und selten einer in der Hosentasche mit sich trägt. Indessen muß man das doch den meisten Herren Advokaten nachreden, sie nehmen bloß die Wolle, selten die Haut dazu, sie sind kluge Schafscherer; diese schinden die Schafe auch nicht, sondern scheren sie bloß, denn wenn sie die Schafe schinden täten, so wüchse keine Wolle mehr nach und das Scheren wäre ein- für allemal aus, tut man aber klüglich, so kann man alle Jahre frisch dran sein, bei Schafen mit gröberem Haar sogar zweimal im Jahr.
Probiere aber einmal einer, diesen Rat machten wir dringlichst geben, und trage immer seines Gegners Sache als die seine vor, und zwar so scharf und bündig, als sie seines Gegners Rechtskundius vorträgt, und höre dann auf das Urteil der Menschen! Unter zehn werden ihm wiederum neune recht geben und sagen: »Du hast recht, fahr aus, es fehlt dir nicht, habs schon hundertmal erfahren!« Dann weiß er, woran er ist und was an dem Urteil der Menge ist. Nun, das tat eben Uli nicht, er lief auch dem Urteil der Menge nach, um sich zu trösten; die Summe, welche nach und nach sich aufs Spiel stellte, war nicht unbedeutend, betrug schon mehr als doppelt so viel, als die ganze Kuh wert war. Ulis Agent hatte ihm schon mehr als einmal gesagt: »Wenn du mir etwas Geld auf Abschlag geben könntest, so wäre es mir anständig; es sind böse Zeiten, es geht nichts ein, und gewiß, weißt wohl, läuft jede Sache besser gesalbet als ungesalbet. Du gewinnst, dann kriegst alles wieder, es fehlt dir nicht.«
Indessen lag alles noch in hängenden Rechten, der Entscheid schob sich immer wieder hinaus. Diese Ungewißheit,[293] dazu der tägliche Verdruß, die harte Arbeit und doch das Nichtvorwärtskönnen zehrten gar mächtig an Uli, er sah aus wie ein Marterbild, und Vreneli bekam recht Angst um sein Leben. Darum konnte es um so geduldiger seine zunehmende Mißstimmung, in welcher er selten einem Kinde mehr ein gutes Wort gab, ertragen. Er hatte von seinem Gelde gekündet, aber es half nicht viel; wenn unten in einer Flasche ein Loch ist, so kann man lange obeneingießen, die Flasche wird nicht voll. Bin solch Loch war der Prozeß. Es lebt selten ein Pächter auf Erden, welcher das Prozedieren ertragen mag, ohne die Auszehrung zu bekommen. Es ist wirklich nicht angenehm, wenn man einen Geldseckel hat, welcher einer halben Sanduhr gleicht, und zwar dem obern Teile, wo das Sand allmählich, aber unaufhaltsam niederrinnt, bis die ganze Büchse leer ist. Nun, an einer Sanduhr macht das nichts; ists oben leer, kehrt man den untern Teil herauf, so ists oben wieder voll, es ist alles im Alten und das Rinnen beginnt aufs neue. Aber bei einem Geldseckel ists eben was anders, dem fehlt der untere Teil; ists oben leer, so ist unten auch nichts mehr, da kann man den Geldseckel hundertmal rundum drehen, leer bleibt leer. Man könnte die Vergleichung drehen und sagen, der obere Teil der Büchse sei der Klient, der untere der Advokat; was oben wegrinne, laufe dem Andern ins Maul, und so, ja freilich, drehe man das Ganze um, so finde man oben beim Advokaten wieder, was der Klient habe rinnen lassen; die Frage sei nur, ob der Advokat Gegenrecht halten und wieder wolle laufen lassen, was er habe. Aber die Sache ist doch nicht so, denn drehe man lange den Advokaten, in den alles geronnen, obenauf, so ist doch nichts oder wenig mehr in der Büchse. So ein Advokat ist noch lange nicht der untere Teil einer Sanduhr, welcher behält, was obeneinkommt, weil er unten kein Loch hat; ein Advokat hat gewöhnlich viele Löcher, wo rasch abrinnt, was oben reinkömmt, daß[294] je mehr hineinkommt, desto mehr unten ausrinnt, so daß wenn man ihn schon lange auf den Kopf stellt, ja schüttelt und rüttelt, nichts mehr unten ausläuft, bis man ihn halt wieder irgendwo unterstellt, Klienten oder fette Ämtchen obenauf.
Es kam Vreneli wirklich oft der Gedanke: Was wartet meiner noch? Die Base stirbt, Uli ist nicht zweg, wo aus das will, ist Gott bekannt; alle Tage tiefer darin und in einem Ghürsch, wo was kriegt, wer betrügt; darf nichts sagen, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen; wenn Gott nicht wäre, meines Lebens wüßte ich wahrhaftig keinen Rat. Dieser passive, leidende Verhalt war für Vreneli um so schwerer, da dasselbe, rasch und unternehmend, zur Regentin von Gott geschaffen war. Das ist gar ein eigner Punkt, zu etwas erschaffen scheinen und was anderes sollen, aber eben will uns Gott an schwachen Seiten doktern, das sollten wir fassen; was uns leicht geht und lustig scheint, dazu bedürfen wir keiner Ausbildung, aber da, wo wir nichts sind und nichts können und doch schön wäre, wenn wir es könnten, da müssen wir geschult und angetrieben werden, wenn wir was werden sollen. Die heutigen Schulherren (Schulmeister darf man nicht mehr sagen, denn die Schule ist emanzipiert, und die, denen sie gehört, sind ja deren Herren) und sonstigen Pädagogen sind freilich anderer Meinung, aber von wegen der Erbsünde und einem höhern ewigen Leben sind wir ganz anderer Meinung. Eben was uns sehr schwer geht, fast unmöglich scheint, das müssen wir lernen. Wer zum Eingreifen, ja Einhauen sich geschaffen glaubt, soll oft eben das Dulden, das Zuwarten, das stille Wirken und das geduldige Ertragen Solcher, welche zum Regieren und Befehlen halt nichts taugen, aber es eben lernen sollten, aushalten lernen, ohne sich zu hängen und aus der Haut zu fahren, siehe Exempel dato im Vaterland. Freigebige sollen von Batzenklemmern und[295] Kreuzerschabern (selbst Juden schaben sonst bloß Goldstücke) die Vorschriften zu gesetzlicher Freigebigkeit sich machen lassen und ihre wohltätige Hand Hochdenselben Kreuzerschabern zu gesetzlicher Verfügung stellen, damit diese freiwillige Almosen aus anderer Leute Sack verwalten lernen, da aus ihren eigenen Säcken nie welche geflossen wären.
So wurde das rüstige, feldherrliche Vreneli nach innen getrieben, zum stillen Ergeben gezwungen, zum Schweigen und Ansichhalten, zum Sammeln und Prüfen der eigenen Gefühle und Gedanken. Aber schadet das was; Schneidet der kundige Gärtner die am üppigsten wachsenden Bäume nicht gerade am meisten und schärfsten zurück, damit sie nicht zu luftig in den Ästen, zu dünn im Stamm, zu schwach in der Wurzel werden für das üppige Geäste, welches keinem Sturmwinde widersteht? Der liebe Gott bleibt immer der allerbeste Lehrmeister, darum werden die andern alle Tage um so weniger taugen, weil sie nach den eigenen Köpfen fahren wollen, und zwar jeder nach seiner eigenen, gestern erdachten Methode, statt den alten Lehrmeister zum Vorbilde zu nehmen. Daher wird es denn auch wohl kommen, daß die meisten Kinder dieser Zeit eben nur Lehrplätze sind, so äußerst selten mehr ein Charakter zu finden ist, so selten einer als Mann hält, was er als Kind versprochen, so selten einer erleuchtet stirbt, wie erleuchtet er schon vom sechsten Jahre, das heißt schulpflichtigen Alter an gepriesen wurde. Es ist aber auch wahr, Vreneli hatte mit sich selbst eine harte Arbeit und oft mußte es unwillkürlich mit der Hand ans Herz fahren, um es zu halten, daß es nicht zerspringe, mußte sich zwingen, mit den Kindern zu reden und zu tändeln; es war ihm, als müsse es seinen Mund verschließen und seine Rede aussterben lassen, und manchmal wollte ihns ein wilder, zorniger Geist ergreifen, wollte in seine Hände fahren, sie reizen, zu turnieren mit Pfannen und Schüsseln, wollte Glut werfen[296] in seine Seele, um dann als zorniger Feuerstrom zu fahren aus seinem Munde in die Schweine hinein, das heißt in Mägde und Knechte, ja manchmal auch über Uli und Kinder. Es mußte Vreneli gar heftig kämpfen mit sich selbst, um zu bewahren einen ergebenen Sinn, Ruhe des Gemütes und ein mildes Wort. Manchmal wollte es sich ihm schier nicht geben; es erfuhr, was es heiße: Niemand wird gekrönt, er kämpfe denn recht.
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