Des I. Abschnitts II. Hauptstück.
Von äsopischen und sybaritischen Fabeln, imgleichen von Erzählungen

1. §.


Der Ordnung des Alterthumes zu folgen, muß ich wohl von dieser Art der Dichtkunst, unmittelbar nach den Liedern handeln. Was eine Fabel überhaupt sey, habe ich oben im I. Theile, im 3ten Hauptstücke ausführlich erkläret. Sie ist eine erdichtete Begebenheit, welche erfunden worden, eine gewisse Sittenlehre darunter zu verbergen, oder vielmehr durch sie desto sinnlicher zu machen. Wir haben auch schon gewiesen, daß sie zweyerley sey; nachdem man entweder Pflanzen und Thiere, oder vernünftige Wesen darinn redend oder handelnd einführet. Hier aber muß ich noch die dritte Art hinzusetzen, darinnen man allegorische Personen dichtet, oder solchen Dingen ein Wesen und Leben giebt, die entweder ganz leblos sind, oder doch nur den Gedanken der Menschen ihr Daseyn zu danken haben: wie sichs hernach deutlicher zeigen wird. Diese Gattung nebst der ersten von Thieren, kann man eigentliche Fabeln oder Mährlein nennen; diejenigen aber, worinn lauter vernünftige Wesen, denkend, redend, und wirkend aufgeführet werden, pflegt man auch wohl Erzählungen zu heißen. Sie ändern aber darum ihre Natur nicht, und bleiben allemal erdichtete Begebenheiten, die ihre Sittenlehre bey sich führen. Menget man aber Thiere und Menschen, oder leblose und allegorische Personen, mit Geistern oder wirklich denkenden Wesen zusammen: so entstehen daraus vermischte Fabeln.[418]

2. §. Daß indessen die Fabeln noch älter, als die übrigen Arten der Gedichte, sonderlich das Heldengedicht seyn, ist leicht zu erweisen. Ohne Zweifel ist das Buch der Richter, wenn es gleich erst um Samuels Zeiten geschrieben wäre, älter als Homer: und in demselben finden wir schon Jothams Fabel von den Bäumen, die sich einen König gewählet. Jotham also, war unstreitig lange vorm Samuel ein Fabeldichter: und da sein Gedicht dergestalt das älteste dieser Art ist, das wir kennen: so ist es wohl werth, daß wir es hier einrücken. Es steht im 9ten Capitel des bemeldten Buches, und lautet so:


Die Bäume giengen hin, daß sie einen König über sich salbeten, und sprachen zum Oelbaume: Sey du unser König. Aber der Oelbaum antwortete: Soll ich meine Fettigkeit lassen, die beyde Götter und Menschen an mir preisen, und hingehen, daß ich über den Bäumen schwebe? Da sprachen die Bäume zum Feigenbaume: Komm du, und sey unser König! Aber der Feigenbaum sprach zu ihnen: Soll ich meine Süßigkeit und meine gute Frucht lassen, und hingehen, daß ich über den Bäumen schwebe? Da sprachen die Bäume zum Weinstocke: Komm du, und sey unser König! Aber der Weinstock sprach zu ihnen: Soll ich meinen Most lassen, der Götter und Menschen frölich machet, und hingehen, daß ich über den Bäumen schwebe? Da sprachen alle Bäume zum Dornbusche: Komm du, und sey unser König! Und der Dornbusch sprach zu den Bäumen: Ists wahr, daß ihr mich zum Könige salbet über euch? so kommet, und versammlet euch unter meinen Schatten. Wo nicht, so gehe Feuer aus dem Dornbusche, und verzehre die Cedern auf dem Libanon.


So lautet die Fabel selbst; ihre Deutung aber mag man, nach den damaligen Umständen, in der angezogenen Stelle nachsehen. Sie ist ganz sittlich, und giebt den Sichemitern einen deutlichen Unterricht: daß sie sich unter Gideons Söhnen[419] gerade den ärgsten ausgesuchet, der theils seine ältern und besseren Brüder erwürget hätte; theils sie selbst zu Grunde richten würde.

3. §. Die Fabel, so nächst dieser die älteste ist, steht im II. Buche Samuels im 12ten Cap. und Nathan erzählete sie dem Könige David. War die obige aus dem Reiche der Bäume genommen: so ist diese von der zweyten Gattung, und hat lauter menschliche Personen; weil nämlich die Schafe, so darinn vorkommen, nichts reden, oder handeln. Von eben der Art ist die dritte, des klugen Weibes zu Thekoa, die im 14ten Cap. desselben Buches steht: und diese wollen einige Neuere lieber Erzählungen (CONTES) nennen; weil es nämlich mehr Anschein hat, daß sie wohl geschehen seyn könnten. So liefert uns denn die Schrift selbst ältere Muster von äsopischen Fabeln und Erzählungen, als die äsopischen sind: gesetzt, daß Aesopus, wie einige Gelehrte meynen, mit dem Assaph in Davids Hofcapelle einerley gewesen wäre. Allein der ganze Orient ist in den ältesten Zeiten wegen seiner Neigung zu den Fabeln und Allegorien berühmt gewesen. Kam nicht die Königinn von Saba, den König Salomon mit ihren Räthseln zu versuchen? Erzählet uns nicht Josephus, auf desjenigen Dius Bericht, der die phönizische Geschichte geschrieben, und auf des ephesinischen Menanders Zeugniß, der die Jahrbücher der Tyrier übersetzet hatte: daß Salomon und Hiram einander Räthsel aufgegeben, und große Summen darauf gesetzet, wer sie nicht würde auflösen können? Selbst die Brachma nen, die Gymnosophisten, ja die Chineser haben in den ältesten Zeiten die Art an sich gehabt, alles in Allegorien und Erzählungen vorzutragen, was sie als gute Lehren fortpflanzen wollen. Die ältesten Römer müssen diese Art zu moralisiren auch geliebet haben, wie wir aus der Fabel des Menenius Agrippa, von dem Streite der Glieder am menschlichen Leibe sehen, womit er den aufgebrachten Pöbel besänftigte, und wieder in die Stadt brachte.[420]

4. §. Doch wir müssen näher auf die rechten Fabelschreiber kommen. Unter den Persern ist Lockmann berühmt geworden, ja sein Ruhm ist bis nach Indien, Aegypten und Nubien gedrungen. Die heutigen Türken kennen ihn, und setzen ihn in Davids Zeiten: worinn sie sich aber, wenn er wirklich Aesopus gewesen seyn sollte, etwan um drey bis 400 Jahre irren. Man hat diese Fabeln auch in heutigen abendländischen Sprachen. Strabo erzählet, die Lehrer unter den Persern pflegten ihren Schülern die Sittenlehre in Erdichtungen vorzutragen. Cyrus, der Stifter ihrer Monarchie, erzählet beym Herodot den Gesandten der Ionier und Aeolier eine Fabel. Indessen ist sehr zu vermuthen, daß dieser Lockmann eben der phrygische Aesopus sey, den fast jedes Volk sich hat zueignen wollen. Die Araber geben vor, er sey von hebräischem Geschlechte gewesen; die Perser halten ihn für einen Aethiopier, welches denn die Etymologie des Namens Aesopus (AETHIOPS) zu bestätigen scheint. Sein Leben, welches Mircond beschrieben hat, kömmt sehr mit des Planudes Leben Aesops überein. Jenem, dem Lockmann, geben Engel die Weisheit; im Philostratus muß Mercur dem Aesop die Fabel eingeben. Kurz, die orientalischen Völker sagen, die Griechen hätten ihnen den Lockmann gestohlen, um ihren Aesop daraus zu bilden. Adam Olearius hat jenes Fabeln verdeutschet, und am Ende des persischen Rosenthals angehänget: Erpenius aber hat sie aus dem Arabischen ins Lateinische gebracht.

5. §. Von der Indianer Weisheit hat uns Sendebar, oder Sandhaber, denn man findet ihn verschiedentlich geschrieben, ein Buch hinterlassen, davon ich einen alten Druck in lateinischer Sprache besitze. Der Titel heißt: DIRECTORIUM HUMANÆ VITÆ, ALIAS PARABOLÆ ANTIQUORUM SAPIENTUM: dieser ist sonder Ort und Namen des Druckers, ohne Zahlen der Blätter und Seiten, mit alten Holzschnitten in Fol. gedruckt. In der Vorrede steht, daß es eigentlich Belile ve[421] Dimne1 heiße, aus dem Indianischen ins Persische, sodann ins Arabische, hernach ins Hebräische, und endlich ins Lateinische übersetzet worden. Dieser letztere Uebersetzer Johannes DE CAPUA, richtet seine Zueignungsschrift an den Cardinal Matthäus, in einem sehr barbarischen Lateine: so, wie es um die Erfindung der Buchdruckerkunst üblich war. Der Inhalt aber besteht in XVIII. Capiteln, aus lauter Fabeln, die der König Anastres Casri, durch seinen Leibarzt Berozias, aus Indien bekommen, als er ihn hingeschicket hatte, auf den Bergen Kräuter zu sammlen, womit man Todte auferwecken könnte. Als dieser sie nun gesammlet und zubereitet hatte, die Todten aber doch nicht auferwecken konnte; erfuhr er von den indianischen Weisen: daß man durch die Berge die weisen Männer, durch die Kräuter aber die Weisheit, wie durch die Todten die Thoren, verstehen müßte; und bekam von ihnen das Buch der Weisheit, welches er ins Persische übersetzte, und seinem Könige brachte. Diesem nun gefiel es überaus, daher er es gemein zu machen befahl. Starke hat es von neuem lateinisch übersetzet; der weise Herzog zu Würtemberg Eberhard aber, soll es ins Deutsche gebracht haben. Eine sehr alte deutsche Dollmetschung in Fol. habe ich zu Wien in einer Privatbibliothek gesehen; die aber ungemein selten gefunden wird.

6. §. Die Fabeln des Pilpay sind mit den vorigen fast einerley, nur die Ordnung und Einrichtung ist etwas anders. Hier ist 1. des Königs Dabschelin und Pilpays Historie nebst fünf Fabeln. Hernach kömmt das Werk selbst in 4 Capiteln. Das erste zeigt durch sechs und zwanzig Fabeln, wie man sich vor Schmäuchlern und Verläumdern zu hüten habe. Im II. sieht man in zehn Fabeln, was es mit boshaften Staatsbedienten endlich für ein Ende nehme. Das III. lehret in 8 Fabeln, wie man sich gute Freunde erwerben könne, und was ihr Umgang nütze. Endlich zeiget das IV. durch zwölf Fabeln,[422] daß man seinen Feinden nie trauen dörfe. Ob wir eine deutsche Uebersetzung davon haben, weis ich nicht. An französischen fehlt es nicht. La Motte hat in der Vorrede zu seinen Fabeln nicht gar zu vortheilhaft davon geurtheilet; aber ihm vieleicht unrecht gethan. Bey den Alten muß man nicht alles so genau nehmen; gesetzt, daß die Allegorie nicht jederzeit ganz richtig wäre. Pilpay soll ein Bramin, oder Brachman gewesen seyn, der unter dem Könige Dabschelin, das Ruder der Staatsgeschäffte in Händen gehabt. Dieser hätte nun alle seine Weisheit in dieß Buch geschlossen, und die Könige von Indien hätten es als einen Schatz aller Einsicht und Gelehrsamkeit aufbehalten; bis der persische König Anuservan davon gehöret (so nennet ihn Huetius, in seinem Tr. vom Ursprunge der Romane), der es durch seinen Leibarzt übersetzen lassen. Der Kalife Abujafar Almansor hätte es ins Arabische bringen lassen, daraus er abermal ins Persische übersetzet worden. Wenn indessen dieser An uservan der König Chosroes ist, der um Kaiser Justinians Zeiten gelebet hat: so ist diese Sammlung von Fabeln bey weitem so alt nicht, daß sie dem Aesopus vorgezogen zu werden verdiente.

7. §. Was nun diesen letztern Fabeldichter betrifft, so hat zwar Planudes ein sehr umständliches und wunderbares Leben von ihm geliefert, das beynahe so heraus kömmt, als das homerische, welches dem Herodot zugeschrieben wird: allein es scheint, daß er es für billig gehalten, dem Urheber der Fabeln einen mit Fabeln reichlich ausgeputzten Lebenslauf zu geben. Viele haben daher gezweifelt, ob jemals ein Aesopus in der Welt gewesen, und dafür gehalten: Planudes selbst, oder sonst jemand habe allerley im Schwange gehende Mährlein gesammlet, und sie alle dem Aesopus zugeeignet; etwa wie wir die Psalmen verschiedener Urheber alle dem David zuschreiben. Allein dieses heißt wohl zu weit gegangen. Das ganze Alterthum giebt ihn für einen Phrygier aus; setzt die Zeit, da er gelebet, um Solons[423] und des lydischen Königes Krösus Zeiten fest; läßt ihn den Chilo, einen der sieben Weisen, sprechen; ja zum Periander nach Korinth kommen, und zu Delphis sterben, wohin ihn Krösus geschicket haben soll. Meziriac hat sein Leben weit besser beschrieben, und Bayle, nebst dem Diogenes Laertius können auch von ihm nachgesehen werden. Sokra tes übersetzte schon im Gefängnisse, eine Fabel von ihm in Verse. Phädrus um Augusts Zeiten, brachte sie ins Latein, und Plutarch gedenket seiner rühmlich. Unsre Alten haben ihn auch schon gekannt und geliebet, ja häufig nachgeahmet: und selbst Luther hat ihn zum Theile verdeutschet, ja mit einer Vorrede herausgegeben. Kurz nach seinem Tode 1548. gab Burcard Waldis, sie mit einem Zusatze 100 neuer Fabeln in Versen heraus. Bald darauf lieferte uns Daniel Holzmann, sonst Xylander, des Bischofs Cyrillus 95 Fabeln, die er unter dem Titel Spiegel der natürlichen Weisheit, 1574. in Augspurg herausgab. Auch Eyering hat noch 1601. in seinen deutschen Sprüchwörtern, die er in Versen erkläret, eine Menge davon einfließen lassen. Und wer will alle die neuen Uebersetzungen zählen, die wir davon bekommen haben?

8. §. Indessen habe Aesopus so viele davon gemachet, als er will: so hat er doch die Ehre, daß sie von ihm die äsopischen Fabeln heißen, und daß sie sich allezeit in ihrer Hochachtung erhalten haben. Und ob er sie gleich nur in ungebundener Schreibart geschrieben, so haben doch alle seine Nachfolger sich um die Wette bestrebet, sie theils in Verse zu bringen, theils darinnen nachzuahmen. Unter die berühmtesten derselben sind unter den Engländern Roger L'ESTRANGE, unter den Franzosen, la Fontaine, und la Motte; unter den Deutschen aber Stoppe, Herr Hofr. Triller, Herr von Hagedorn, und Herr Prof. Gellert, zu zählen. Einige von diesen haben fremde Fabeln und Erfindungen auf eine neue Art in Verse gebracht; andre aber haben eigene und neue erdichtet; andre aber auch Erzählungen[424] mit eingemischet. Ich könnte von unsern Landsleuten noch viel mehrere nennen, die sich in diesem Felde geübet; wenn sie nicht entweder gar zu schlüpfrige Züge hätten mit einfließen lassen, die, wider den Endzweck der guten Fabel, mehr zu Verderbung, als Besserung der Sitten dienen, und also FABULÆ PECCARE DOCENTES heißen möchten; oder doch sonst viel zu schlecht wären, an jene Meister zu langen. Doch verdient der so betitelte deutsche Aesop, der in dem 1740 Jahre zu Königsberg herausgekommen, nicht ganz vergessen zu werden; weil viel schöne Stücke darinnen sind. Von alten deutschen Fabeln, die lange vor der Wiederherstellung der Wissenschaften, theils aus dem Aesop übersetzet, theils neu geschrieben worden, hat uns Scherz, in Straßburg eine Sammlung 1704. in 4. ans Licht zu stellen angefangen2; aber bey der 51sten aufgehöret: da doch ihrer viel mehrere waren. Ich besitze etliche alte Handschriften von denselben; und werde sowohl davon, als vielen andern geschriebenen Ueberbleibseln unsrer Alten, in meiner Historie der deutschen Sprache, Dichtkunst und Beredsamkeit, zu seiner Zeit, mehr Nachricht geben.

9. §. So ernsthaft nun die äsopischen Fabeln ihrer Absicht und Einrichtung nach sind: so possenhaft und üppig sind hingegen die sybaritischen gewesen, von welchen ich noch etwas sagen muß. Sybaris war eine Stadt, im untern Theile von Italien, oder der sogenannten GRÆCIA MAGNA. Hieher waren, wie Herodot berichtet, die weichlichen und wollüstigen Sitten der Jonier und Asiater schon vorher gedrungen, ehe noch das eigentliche Griechenland damit angestecket worden. Die Zärtlichkeit in der Lebensart, die Leckerhaftigkeit in Speise und Trank, und die Ueppigkeit selbst hatten bey diesem Volke dergestalt überhand genommen, daß auch die[425] Fabeln ihrer witzigen Köpfe davon angestecket wurden. Sie vergaßen also den moralischen Zweck ihrer ersten Erfinder und Meister, und verwandelten sie in ein Possenwerk. Die Sybariten wollten nur lachen; daher gefiel ihnen nichts, als was lustig war: wie Fontenelle dieses in seinen Gesprächen der Todten, wo Milo und Smindiride, die Sybariterinn, mit einander sprechen, gar fein abgeschildert hat. Daher bemüheten sich auch ihre Dichter nur spaßhafte Fabeln zu machen. Hesychius giebt in einer sehr verderbten Stelle zu verstehen, daß Aesopus nach Italien ge kommen; und als seine Fabeln daselbst viel Beyfall gefunden, hätte man ihnen einen andern Schwung gegeben, und sie sybaritische genennet. Worinn aber die Veränderung bestanden, sagt er nicht. Suidas glaubt, sie hätten den äsopischen ähnlich gesehen: aber er irret ohne Zweifel. Der alte Scholiast des Aristophanes saget: Die Sybariten hätten sich der Thiere in ihren Fabeln bedienet; so wie Aesopus, der Menschen. Allein die Stelle ist ohne Zweifel verderbet; denn wer weis nicht, daß Aesopus sich der Thiere bedienet hat? Eben das bestärket Aristophanes im folgenden; da er den Philokleon eine äsopische, und eine sybaritische Fabel erzählen läßt, wo denn in der ersten Thiere, in der andern aber Menschen vorkommen.

10. §. Aelian soll uns also durch eine Probe lehren, wie sie ausgesehen haben: »Ein Kind zu Sybaris, heißt es, gieng mit seinem Hofmeister über die Straße; und da es einen Menschen sah, der gedörrte Feigen verkaufte, stahl es ihm eine weg. Der Hofmeister gab ihm einen derben Verweis darüber, nahm ihm die Feige weg, und aß sie selbst.« Diese Fabel nun besteht aus menschlichen Personen, und hält noch eine Lehre in sich, so spaßhaft sie auch ist; und wenn sie alle so gewesen wären, so hätte man nicht viel dagegen zu sagen. Allein sie wurden allmählich so geil, daß selbst Ovidius eine von der Art unter die allerüppigsten Stücke rechnet, die er gesehen. Viele Gelehrte glauben, er habe von dem Werke eines[426] gewissen Sybariten Hemitheon geredet, dessen auch Lucian, als eines rechten Zotenkrämers gedenket. Allein dieses Buch war kurz vorm Ovidius gemachet, und Sybaris war schon von den Crotoniaten fünfhundert Jahre vorher zerstöret worden. Hemitheon hätte auch eher ein Thurier, als ein Sybarit heißen sollen; weil er aus Thurium war, welches die Athenienser nahe an der Stelle gebauet hatten, wo Sybaris gestanden hatte; wenn er nicht solche sybaritische Zoten geschrieben hätte. Oder vieleicht ist auch dieß ovidische Zotenwerk noch sonst von einem Römer, nach sybaritischer Art geschrieben gewesen; wie nachmals unter den Kaisern mehrere dergleichen Ueberschrift geführet. Die Römer nämlich hatten schon zu Ovids Zeit ihre Sitten sehr zu verderben angefangen, und fielen unter den folgenden Kaisern immer tiefer in die Schwelgerey und Ueppigkeit. Sonst findet man noch, daß diese Fabeln sehr lakonisch, das ist, in sehr kurz gefaßter Schreibart abgefasset gewesen.

11. §. Soll ich nun mein Urtheil davon sagen: so ist es eben nicht sehr zu bedauren, daß diese sybaritischen Fabeln so gar verlohren gegangen: wofern nicht irgend die berühmte Matrone von Ephesus, die uns Petron aufbehalten hat, zu dieser Zahl zu rechnen ist. Denn ungeachtet die menschlichen Personen, die darinnen vorkommen, nicht schlechterdings zu tadeln sind; ja lange vor den Sybariten, vom Nathan, dem klugen Weibe von Thekoa, u.a.m. gebrauchet worden: so ist doch das possenhafte und geile Wesen derselben auf keine Weise zu billigen. Die Dichtkunst ist um edlerer Absichten halber erfunden worden, als bloß die Menschen üppiger und wollüstiger zu machen: und auch ohne Zuthun der Poeten können sich die Sitten der Völker nur gar zu sehr verderben. Weit gefehlt also, daß man hier eine Anleitung finden sollte, wie sie zu verfertigen wären; so will ichs vielmehr allen angehenden Dichtern ernstlich widerrathen, ihre Muse niemals so tief zu erniedrigen, daß sie eine Dienstmagd der Geilheit, oder eine Kupplerinn abgeben sollte. Einen bloßen[427] Possenreißer zu spielen, ist ebenfalls kein rühmliches Handwerk, und kann den sogenannten Pritschmeistern überlassen werden, die längst unter uns ehrlos geworden. Wie sehr wäre es zu wünschen, daß auch Fontaine in seinen Erzählungen, die größtentheils sybaritisch genug klingen, und andre witzige Köpfe unter uns, ihre Federn nicht so erniedriget hätten, der Unfläterey Vorschub zu thun! Ich nenne keinen, meyne aber alle, die sich mehr oder weniger mit den Lastern so gemein gemachet; daß sie sich hier getroffen finden. Es ist gewiß ein elender Ruhm, den man sich durch Zoten erwirbt, und, wie Rachel sagt:


Durch solche Bubenpossen,

Die auch kein Hurenwirth sollt hören unverdrossen.


12. §. Nun muß ich überhaupt die Regeln solcher äsopischen Fabeln geben, so wie sie von den besten Meistern in dieser Art beobachtet worden. Daher werde ich zuerst sagen: Man setze sich einen untadelichen moralischen Satz vor, den man durch die Fabel erläutern, oder auf eine sinnliche Art begreiflich machen will. So sind die ältesten und besten Fabeln, Jothams, Nathans, Aesops, Lockmanns, Pilpays u.a.m. Die Poesie nämlich ist in diesen ältesten Zeiten die Philosophie des menschlichen Geschlechtes gewesen. Man suchte den gemeinen Mann zu unterrichten, und ihm die sittlichen Wahrheiten, unter angenehmen Bildern beyzubringen. Die Fabeln schickten sich nun sonderlich dazu, um die an sich bittern Lehren, gleichsam zu verzuckern. Sie führen auch eine solche Ueberzeugungskraft bey sich, daß man schwerlich an demjenigen zweifeln kann, was einem ein solcher Wolf, oder Fuchs, ein Lamm, oder Hund nicht so wohl prediget, oder einschärfet, als vielmehr in seinem eigenen Beyspiele als wahr oder gerecht, als klüglich oder thöricht angefangen darstellet. Bey dieser so reinen als löblichen Absicht der weisen Alten, muß man die Fabeln zu erhalten suchen. Alle Völker haben ihre Mährlein gehabt, wodurch[428] Mütter und Wärterinnen ihren Kindern zuerst die Tugend einzuflößen gesuchet. Rollenhagen gedenket in der Vorrede zu seinem Froschmäuseler, des altdeutschen Mährleins vom frommen Aschenpössel und seinen spöttischen Brüdern; vom albernen und faulen Heinzen, vom eisernen Heinrich, von der alten Neidhartinn u.d.m. die nur immer mündlich fortgepflanzet worden, und nun bereits vergessen zu seyn scheinen. Wie übel also diejenigen thun, die auf gut sybaritisch, Fabeln zu Ausbreitung der Ueppigkeit und Geilheit misbrauchen, und ihren Lesern nichts als Wein, Wollust und Ehebruch predigen, kann ein jeder, der es mit dem menschlichen Geschlechte gut meynet, zur Gnüge ermessen: da auch Heyden, ja unter ihnen der sonst so unzüchtige Ovid, in seinen Verwandlungsfabeln, die Tugend allezeit geschonet, und von den Lastern mit Abscheu geredet haben.

13. §. Die II. Regel sey: man kleide die erwählte Sittenlehre in eine solche Begebenheit von Pflanzen, Bäumen oder Thieren ein, daß ihre Wahrheit aus dem Erfolge der Begebenheiten selbst erhellet. Man beobachte aber in der Wahl derselben die Natur und Eigenschaft eines jeden solchen Wesens; daß keines etwas rede und thue, das seiner bekannten Art zuwider läuft. Hieraus nämlich wird die Wahrscheinlichkeit entspringen, ohne welche einer Fabel das hauptsächlichste fehlet. Ein Thier also, das räuberisch ist, muß als gottlos und ungerecht, ein faules faul, ein frommes fromm, ein geduldiges und schläfriges ebenfalls nach seiner gewohnten Art reden und handeln. So kann man auch von den Pflanzen z.E. eine hohe Tanne, oder Eiche, als stolz über ihren Vorzug vor geringern Bäumen; eine bunte Tulpe, als eitel über ihre Farben; ein Veilchen, als demüthig; eine Lilge, als reinlich und unschuldig; eine Rose, als verliebt u.s.w. vorbilden. Ja alles, was nur den geringsten Anschein der Sitten, oder sittlichen Neigungen bey diesen, und andern leblosen Geschöpfen hat, kann einem Dichter zu einer Fabel Anlaß gegben. So hat Stoppe den Stein und den Dornbusch am Wege; imgleichen[429] den Ofen und die Fenster, ferner den Studentendegen und das Soldatenschwert, ihrer Art und Natur nach, sehr gut redend eingeführet. So hat auch la Motte bisweilen die mythologischen Götter, die Ehre, das Glück, den Tod, die Kunst, und den Reichthum, und andre solche allegorische Wesen sehr glücklich gebrauchet, seine Absichten auszuführen: und viele von unsern Landsleuten sind ihm darinn nicht uneben, oder mit schlechterm Glücke nachgefolget.

14. §. Will man menschliche Erzählungen machen: so haben wir schon eine Menge gesammleter Historien, die sich sehr gut würden lesen lassen, wenn sie von guten Federn in Verse gebracht würden. Vor 200 Jahren ohngefähr hat Kirchhof eine solche Sammlung unter dem Namen Wendunmuth geschrieben, worinn manches Stück wohl werth wäre, poetisch erneuert zu werden. Man müßte nur sowohl aus diesem, als aus andern dergleichen Büchern, die besten auslesen, die nicht anstößig, oder schmutzig; sondern vielmehr lehrreich wären. Auch in Zinkgräfs apophthegmatischer Sammlung der Deutschen Weisheit, ist manch schönes Stück, das hieher gehöret; ja im gemeinen Leben fallen sehr oft Dinge vor, die einem Dichter schöne Gelegenheit geben, solche in poetische Erzählungen einzukleiden. Und hier braucht er sich eben nicht gar zu sclavisch an die Wahrheit der Geschichte in allen Umständen zu halten. Er kann damit nach Belieben schalten, und manches ändern, weglassen, oder hinzu dichten, damit es zu seinen sittlichen Absichten bequem werde. Nur hüte man sich vor gar zu deutlichen und persönlichen Satiren: dabey man diejenigen mit Fingern zeigen kann, die es trifft. Es ist besser, wenn die Lehre allgemein ist, und sich auf viele deuten läßt; als daß sie gar zu genau auf einzelne Personen passet, und also minder nützlich wird. Ob nicht manche von unsern Fabeldichtern es darinn versehen, und oft mehr besondern Absichten, als der gemeinen Besserung zu gut, gedichtet haben, das wollen wir ihnen ins Gewissen schieben.[430]

15. §. Eine solche Fabel oder Erzählung nun, muß III. kurz seyn. Denn da Fabeln bloß der Erbauung wegen gemachet werden: so muß man sich auch erinnern, daß man sie als Sittenlehren anzusehen, und also nicht gar zu lang auszudehnen habe. Horaz sagt ausdrücklich:


QUIDQUID PRÆCIPIES, ESTO BREVIS; UT CITO DICTA

PERCIPIANT ANIMI DOCILES, TENEANTQUE FIDELES.


Trifft nun dieses gleich hauptsächlich die am Schlusse derselben angehängte Lehre; als welche bey einer Fabel nicht leicht ausbleiben kann; sie müßte denn schon überaus deutlich von sich selbst ins Auge fallen: so gilt es doch auch überhaupt von der ganzen Fabel. Die Alten sind uns hierinn mit den trefflichsten Mustern vorgegangen. Nichts ist wunderwürdiger, als die Einfalt und Kürze Aesops: aber nichts ist auch schwerer nachzuahmen. Alle neuern Fabeldichter vom Fontaine an, bis auf die neuesten, sind oft große Schwätzer dagegen. Sie zerren und dehnen die geringste Sache so lang hinaus, daß dem Leser oft Zeit und Weile lang wird, ehe er das Ende findet. Man nehme nur la Mottens und Stoppens Fabeln zur Hand, und sehe, wie weitläuftig ihre Eingänge, wie geschwätzig sie in ihren Erzählungen, und wie postillenhaft sie oft in den angehängten Lehren sind. Ganz unnütze Umstände, Kleinigkeiten, die nichts zur Absicht beytragen, recken sie so weit auseinander, daß ungeübte Leser endlich das Hauptwerk darüber aus den Augen verlieren. Man sehe z.E. den Wetterhahn und die Glocke in Stoppen nach, wo so viel fremdes mit eingemischet ist, daß man endlich den Zweck fast verkennet. Und klingt mancher Einfall oder Ausdruck gleich possirlich: so möchte man doch einem solchen Dichter mit dem Horaz zurufen:


Dieß alles ist schon gut, nur hier gehörts nicht her![431]


Und anderwärts:


OMNE SUPERVACUUM, PLENO DE PECTORE MANAT.

Was überflüssig ist, vergißt man gar zu leicht.


16. § Endlich ist auf die Schreibart noch zu sehen, die man in den Fabeln und Erzählungen brauchen soll. Aesopus und Phädrus haben sich des allerungekünsteltsten und natürlichsten Ausdruckes bedienet, und doch die pöbelhafte Sprache sorgfältigst vermieden. Diese edle Einfalt müssen sich billig alle Fabeldichter zum Vorbilde nehmen, und sie, so viel möglich, ein jeder in seiner Sprache, zu erreichen suchen. Allein diese Regel ist den meisten Neuern zu schwer geworden. Viele haben wohl gar in Uebersetzung der äsopischen Fabeln eine rechte possenhafte Pöbelsprache gebrauchet; wie ich oben in dem Hauptstücke von der Schreibart dergleichen aus Riederern angeführet habe. Andere haben gar zu sehr ihren Witz zeigen wollen, und sind also auf eine gar zu sinnreiche Schreibart verfallen, wie DE LA MOTTE; der mit vielen seiner gar zu spitzfindigen Einfälle, zum Gespötte geworden. Z.E. wenn er den Fuchs, ( UN PYTHAGORE À LONGUE QUEÜE) den langgeschwänzten Pythagor; ein Gerücht Kraut: ein Topfphänomenon; oder eine Küchenerscheinung; (UN PHENOMENE POTAGER) und dergleichen mehr genennet: so ist er im DICTIONNAIRE NEOLOGIQUE damit sehr übel angekommen. Was könnte man nicht aus Stoppens und andern Fabeln für Wortgespenster, (wenn ich diese kauderwälsche Art sinnlich zu machen, so reden darf,) zusammen tragen; die wohl in dem Munde eines Pickelherings, aber nicht auf den Lippen eines moralischen Fabeldichters Entschuldigung verdienen? Was soll ich von denen sagen, die aus äsopischen Fabeln gar asotische, oder sybaritische machen? Ein Sittenlehrer muß seinen Charakter bedenken, und da er andere lehren will, nicht sich selbst verächtlich machen. Man sage nicht, er müsse auch belustigen: das ist wahr, und eben[432] durch das Belustigen muß er unterrichten. Allein, die Fabel an sich selbst belustiget schon, durch die Aehnlichkeit, die sie mit den Neigungen und Handlungen der Menschen hat: was brauchet er nun noch die zotenhafte Schreibart? Ich überlasse es dem Urtheile der Leser, ob es nicht auch dahin gehöre, daß Fontaine und la Motte, ihre Thiere einander Gevatter und Gevatterinn nennen lassen; und wenn in Stoppen eine Eiche einmal zu einem andern Baume sagt:


Ich will wohl eine Hure seyn!


Exempel von guten und schlechten Fabeln, wird man in obangezogenen Büchern zur Gnüge finden.

1

In Stollens Hist. der Gel. steht KELILAH WA DIMNAH. Welches ist recht?

2

Der Titel heißt: PHILOSOPHIÆ MORALIS GERMANORUM MEDII ÆVI SPECIMEN PRIMUM, EX MANUSCRIPTO NUNC PRIMUM IN LUCEM PUBLICAM PRODUCTUM. ARGENTOR. 1704. IN 4.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 433.
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