Das Erwachen

[221] Der Königsleue schlummert auf einem Grabe stumm,

Die Mäuse halten Fastnacht und hüpfen lustig herum.

Ei, wag' dich nicht zu nahe, du luftiges Gezücht!

Entfliehe, denn es schlafen die Löwen lange nicht.


Selbst Leu'n sind schwach im Schlummer, drum, Löw', erwache bald!

Schon schnaubt der grimme Eber aus dem Ardennerwald,1

Der sich auf deine Blumen, in deine Saaten warf,

Und wetzt an deinen Palmen die blut'gen Hauer scharf.


Wach' auf! – hat Rolands Glocke2 dich nicht vom Schlaf geschreckt?

Hei, wie zu Gent sie dröhnet und Brügg' und Lüttich weckt!

Das deutet Brand! die Flamme des Aufruhrs ist erwacht;

Sieh, wie der Franzos die Funken zur hellen Lohe facht!3


Wach' auf, o Max, und schreite ins blutige Gericht!

Und wecken Flanderns Rebellen und Frankreichs Meuchler dich nicht,

So krach' es dir in die Ohren mit greller Posaunenkraft:

Wach' auf, dein Sohn ist gefangen, dein Sohn ist in enger Haft!4
[221]

Erwacht ist der Leu; ein Satz nur, sein Ziel hat er erreicht!

Wie ihm die Mähne lodert, wie rings das Leben erbleicht!

Ei, du gewalt'ger Eber, der Löwe packt doch gut

Und düngt jetzt seine Saaten mit deinem schwarzen Blut.


Ei, Gent, die Mörser donnern doch lauter als dein Roland,

Gelt, Franzmann, hast beim Heizen die Finger dir verbrannt?

Gelt, meuterisches Flandern, der Aar holt doch sein Kind,

Zum sichern Felsenhorste trägt er's durch Sturm und Wind!


Fußnoten

1 Wilhelm Graf von Arenberg oder von der Mark mit dem Spitznamen der Eber aus dem Ardennerwald.


2 Es hängt in dem hohen Thurme zu Gent, Bellfort genannt, eine 11,000 Pfund schwere Glocke, welche die Einwohner den Roland nennen; an dem Rande herum hat sie folgende Inschrift:

Roland, Roland, als ick kleppe, dann ist Brand,

Als ick luye, dann ist Oorloghe in Vlaenderland.

Fugger, Ehrenspiegel.


3 Frankreich unterstützte anfangs insgeheim, später öffentlich die aufrührerischen Flanderer.


4 Maximilians Sohn, Philipp, wurde von den Gentern in sicherer Verwahrung gehalten, die ihn zwar als ihren Künftigen Herrscher ansahen, doch seinen Vater nicht als Vormund anerkennen wollten sondern vielmehr sich selbst zur Vormundschaft berechtigt glaubten.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke,Band 1–4, Band 3, Berlin 1907, S. 221-222.
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Der letzte Ritter
Sämtliche Werke 5: Der letzte Ritter. Spaziergänge eines Wiener Poeten. Herausgegeben von Anton Schlossar [Reprint der Originalausgabe von 1906]