Freundeswunsch

[193] An Rosine St. –


Wenn vom Frühling rund umschlungen,

Von des Morgens Hauch umweht,

Trunken nach Erinnerungen

Meine wache Seele späht,

Wenn, wie einst am fernen Herde,

Mir so süß die Sonne blinkt,

Und ihr Strahl ins Herz der Erde,

Und der Erdenkinder dringt,


Wenn umdämmert von der Weide,

Wo der Bach vorüber rinnt,

Tief bewegt von Leid und Freude

Meine Seele träumt, und sinnt,

Wenn im Haine Geister säuseln,

Wenn im Mondenschimmer sich

Kaum die stillen Teiche kräuseln,

Schau ich oft und grüße dich.


Edles Herz, du bist der Sterne

Und der schönen Erde wert,

Bist des wert, so viel die ferne

Nahe Mutter dir beschert.

Sieh, mit deiner Liebe lieben

Schöner die Erwählten nur;

Denn du bist ihr treu geblieben,

Deiner Mutter, der Natur!
[194]

Der Gesang der Haine schalle

Froh, wie du, um deinen Pfad;

Sanft bewegt vom Weste, walle,

Wie dein friedlich Herz, die Saat.

Deine liebste Blüte regne,

Wo du wandelst, auf die Flur,

Wo dein Auge weilt, begegne

Dir das Lächeln der Natur.


Oft im stillen Tannenhaine

Webe dir ums Angesicht

Seine zauberische reine

Glorie das Abendlicht!

Deines Herzens Sorge wiege

Drauf die Nacht in süße Ruh,

Und die freie Seele fliege

Liebend den Gestirnen zu.

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 193-195.
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