Lebenspflichten

[200] Rosen auf den Weg gestreut,

Und des Harms vergeßen!

Eine kleine Spanne Zeit

Ward uns zugemeßen.


Heute hüpft, im Frühlingstanz,

Noch der frohe Knabe;

Morgen weht der Todtenkranz

Schon auf seinem Grabe.


Wonne führt die junge Braut

Heute zum Altare;

Eh die Abendwolke thaut,

Ruht sie auf der Bahre.


Ungewißer, kurzer Daur

Ist dieß Erdeleben;

Und zur Freude, nicht zur Traur,

Uns von Gott gegeben.


Gebet Harm und Grillenfang,

Gebet ihn den Winden;

Ruht, bey frohem Becherklang,

Unter grünen Linden.


Laßet keine Nachtigall

Unbehorcht verstummen;

Keine Bien', im Frühlingsthal,

Unbelauschet summen.


Fühlt, so lang es Gott erlaubt,

Kuß und süße Trauben,

Bis der Tod, der alles raubt,

Kommt, sie auch zu rauben.
[200]

Unser schlummerndes Gebein,

In die Gruft gesäet,

Fühlet nicht den Rosenhayn,

Der das Grab umwehet.


Fühlet nicht den Wonneklang

Angestoßner Becher;

Nicht den frohen Rundgesang

Weingelehrter Zecher.
[201]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 200-202.
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