Es war ein schauerlicher Winterabend. Der Sturm brauste um die Dachhaube, als ob er sie abreißen wollte, der Regen schlug in dicken Tropfen an die kleinen, hier und da mit Papier verklebten Bleifenster, und in dem elenden Kämmerlein, in welches ich euch hineinführe, brannte kein lustiges Kaminfeuer. Dennoch hatten Wilhelm und Theodor, die armen, verwaisten Kinder, sich dicht nebeneinander auf die kalte Ofenbank gekauert, vielleicht, um dort von einem warmen Ofen und hinreichenden Abendbrot zu träumen, vielleicht, um sich glücklicherer Stunden an dem Platze, wo sie sie vorzugsweise genossen haben mochten, zu erinnern. Doch die Kälte war zu scharf, der Hunger zu groß, als daß sie von Träumen warm oder von Erinnerung satt hätten werden können; sie seufzten, sie sahen einander mit tränenvollen Blicken an, und als zuletzt gar die armselige Lampe, welche bisher noch einen schwachen Schimmer in der großen, leeren Stube, die sich bei dem gänzlichen Mangel an Möbeln fast unheimlich ausnahm, verbreitet hatte, ganz und gar ausging, schauderte der kleine Theodor zusammen und sagte halbleise zu seinem Bruder:
»Wilhelm, ich fürchte mich, laß uns zu Bett gehen!«
»Ich fürchte mich nicht«, gab Wilhelm zur Antwort, »aber ich friere und hungere, und wenn ich auch zu Bett gehe, so kann ich doch vor Hunger nicht schlafen!«
»Schlafen kann ich«, erwiderte Theodor, »und ich träume dann immer sehr angenehm, ich gehe mit Vater und Mutter spazieren im Walde, wir pflücken Erdbeeren, Mutter schneidet mir große Butterbröte, oder Vater bringt mir etwas mit aus der Stadt.
Träumst du nicht, Wilhelm?«
»O ja«, versetzte dieser, »aber meine Träume sind anderer Art.
Einmal sah ich, wie die Hütte über uns zusammenstürzte, ich sprang aus dem Fenster, du warst zu langsam und wurdest zerschmettert;[274] ich sehe dich noch unter den Balken liegen mit dem blutigen, zerquetschten Kopfe. Ein anderes Mal gingen wir zusammen im Walde; du fandest eine schöne Frucht, wie wir noch niemals gesehen hatten, als wir sie aber essen wollten, kam plötzlich ein großer Raubvogel und riß sie dir mit dem hungrigen Schnabel aus der Hand; ich erhaschte ihn bei den Flügeln; er aber hackte mir ins Auge, so daß ich ihn loslassen mußte.«
»Armer Wilhelm«, sagte Theodor, »ich wollte, daß ich dir meine Träume mitteilen könnte! Es ist doch schlimm, daß du in dem selben Augenblick, wo mir träumt, du begleitest mich, issest mit mir und teilst meine Freuden, in Angstschweiß liegen und mit Ungeheuern kämpfen mußt.«
»Ach was«, entgegnete Wilhelm unwillig, »mit meinen Träumen wollte ich leicht fertig werden, wenn wir nur am Tage etwas zu essen hätten. Du bist auch viel ungeschickter als ich; weißt du wohl, daß ich gestern und vorgestern beide Male eine Drossel fing? Wenn es mir aber mit dem Fange nicht geglückt, du bringst nie das Geringste nach Hause. Ich weiß kaum, warum ich noch immer mit dir teile; wärst du nicht gewesen, so hätte ich noch Kartoffeln und Brot die Menge gehabt.«
»Du bist wieder einmal recht sehr hart gegen mich«, antwortete Theodor nach einer ziemlich langen Pause, »ich weiß wohl, daß ich selten oder niemals Glück habe, wenn ich in den Wald gehe, um Wurzeln zu suchen oder ein kleines Tier, einen Vogel usw. für unseren Tisch zu fangen, aber ich lasse es doch an gutem willen nicht fehlen und bin ja auch noch nicht so groß wie du.«
Ein tiefes Stillschweigen entstand. Schauriger brauste der Sturm. Nach einer Weile sagte Theodor:
»Wilhelm, ich lege mich zu Bett; es ängstigt mich gar zu sehr, ich meine bei jedem Windstoß, daß die Hütte zusammenbricht.«
»Gehe nicht zu Bett, lieber Theodor«, versetzte Wilhelm und faßte seine Hand, »fühlst du nicht, wie ich zittere? Es war mir eben, als ob Vater vor mir stände, so blaß und entstellt, wie er draußen in der Kammer liegt; weiß du noch, wir sahen ihn zum letztenmal, als wir Mutter hineintrugen. Er drohte mir mit dem Finger, o, Theodor, ich will dich recht lieb haben!«
»Ach, Wilhelm«, entgegnete Theodor leise, »mich grauset bei deinen Worten. Ich glaubte, unsere Mutter zu sehen, sie schaute[275] mit trüben, ernsthaften Blicken auf dich und schlug ihre Augen dann gen Himmel. Sollten unsere Eltern wirklich noch leben; sollten sie in einem tieferen Schlafe liegen und nur selten er wachen dürfen? Wollen wir einmal in die Kammer gehen?«
»Nein, nein!« antwortete Wilhelm hastig, »ich gehe nicht in die Kammer. Vater und Mutter sind tot; sie haben uns oft gesagt, daß die Toten vor dem Jüngsten Tage nicht wieder erwachen.«
»Wie, Wilhelm«, versetzte Theodor, »wenn heute der Jüngste Tag wäre? Hast du jemals einen solchen Sturm erlebt? Es ist, als ob alle Bäume aus der Erde gerissen würden.«
»Wir wollen beten«, sagte Wilhelm, »bete, Theodor!«
»Und ich will den lieben Gott um den Jüngsten Tag bitten«, antwortete Theodor und faltete seine Hände.
Plötzlich ließ sich vor den Fenstern ein wildes Gelächter vernehmen, und es war, als ob an die Tür gepocht würde.
»Was war das?« rief Wilhelm.
»Bruder, Bruder, bete!« rief Theodor.
Das Gelächter wurde stärker und wilder wiederholt, ein helles Licht drang in das Fenster, und seltsame Gestalten huschten, wie Schattenbilder, vorüber. Theodor klammerte sich ängstlich an seinen Bruder, dieser aber rief: »Laß mich los, laß mich los, ich will hinaus!«
»Um Gottes willen nicht, Bruder!« ermahnte Theodor. Doch Wilhelm ließ sich nicht halten, sondern eilte fort. Kaum hatte er die Tür geöffnet, als der Sturm auf einmal schwieg; liebliche Klänge und Gesänge schallten ihm entgegen, schöne Blumen erfüllten die Luft mit Wohlgerüchen, und es war heller Tag. Wilhelm traute seinen Augen nicht und fragte sich selbst: hab ich denn einen von Theodors Träumen? Plötzlich stand ein langer, hagerer Mann mit einem eingefallenen, düsteren Gesicht vor ihm und rief ihm mit dumpfer Stimme zu: »Laß die Gedanken an den Bruder und sieh dich hier um!« Wilhelm wagte kaum, den Mann anzusehen, obgleich dieser sich auf alle Weise bestrebte, ungewöhnliche Freundlichkeit in seine Mienen zu legen; umso lieber aber folgte er dem Geheiß desselben, sich umzusehen, und bewunderte die seltene Pracht und Herrlichkeit, die ihn umgab und die sich mit jeder Minute veränderte. Bald sah er einen großen, von köstlichen Gärten eingefaßten, dunkelblauen See, in welchem[276] das Bild der Sonne schwamm, wie eine goldene Kugel, und dessen sanfte Wellen, sowie ein leiser Luftzug sie bewegte, in allen Farben spielten; bald ein lustig grünendes Wäldchen mit Rehen, Hirschen und Eichhörnchen; jetzt schaute er in einen mächtigen Palast hinein, mit Pforten von gediegenem Silber und Wänden von Stahl, und jetzt stieg ein riesenhafter Turm vor seinen Blicken in die Höhe, und all diese ungeheuren Erscheinungen schienen nicht tote Massen zu sein, sie schienen ein eigentümliches Leben zu haben und nach eigener Willkür zu kommen und zu verschwinden. Wilhelm verwandte kein Auge von dem Turm, denn ihm war, also ob er ganz oben in einem der vielen Erker das Bild seiner Mutter gewahre, die ihn unverwandt und wehmütig, fast bittend ansah; der hagere, finstere Mann sah auch hinauf, ein düsterer Schatten lief über sein Gesicht, und er fragte den Knaben hastig, um ihn von der Betrachtung des Turmes abzuziehen, ob er auch vielleicht hungrig sei.
»Ach, recht sehr«, antwortete Wilhelm, »ich habe den ganzen Tag nichts gegessen.«
»Den ganzen Tag nicht?« entgegnete der Hagere, »ei, ei, wo waren denn deine Eltern, daß sie dir nicht zu essen gaben?«
»Meine Eltern sind tot, mein Vater starb vor vierzehn Tagen, meine Mutter vor acht.«
»Tot« versetzte der Hagere mit einer unangenehmen höhnischen Lache, »ja, ich weiß, ich weiß! Faul Volk, faul Volk! Wenn das nicht mehr arbeiten mag, so legt sichs auf den Rücken und stellt sich tot! Hä! hä! hä!«
»Lache nicht, Mann«, sagte Wilhelm, und kalte Schauer rieselten ihm durch Mark und Bein, »mein Vater und meine Mutter sind tot!«
»Es gibt keinen Tod«, erwiderte der Hagere, »es gibt nur Leben, nur Leben. Was sich tot stellt, das kehrt die alte Spielerei um, schläft bei Tage und verlädt bei Nacht sein Grab, um zu hüpfen und zu springen. Wo liegt dein Vater und deine Mutter? führ mich hin, führ mich hin, sollen schon heraus, mögen wollen oder nicht!«
Wilhelm starrte ihn an. Dann sagte er: Mein Vater und meine Mutter liegen in der Kammer, den Vater trug die Mutter dahin, als er gestorben war, die Mutter wir, ich und mein Bruder. Da[277] sah ich meinen Vater zum letztenmal; seine Augen waren aufgesprungen, seine Wangen entsetzlich aufgedunsen – »o, er ist wohl tot!«
Der Hagere lachte. Wilhelm war es, als ob er durch dies Gelächter vernichtet würde, er schrie laut auf und wollte entfliehen. Doch auf einmal stand ein mit den schönsten Speisen besetzter Tisch vor ihm, und der Hagere rief ihm zu:
»Dummer Knabe, willst denn verhungern? Bleib doch! Iß, iß! Hab dich längst gerufen, hab dich lieb!«
Der Hunger erwachte wieder mit aller Gewalt in Wilhelm, als er die Gelegenheit, ihn zu stillen, vor sich sah. Er aß und trank gierig und war schon halb gesättigt, als er sich seines armen Bruders erinnerte und den Hageren bat, doch auch diesen herbeizurufen. Der aber machte ein falsches Gesicht und sagte:
»Davon kein Wort. Sorge für dich! Siehst du jenen Baum? Neben ihm steht einer, der dem Ausgehen nahe ist; er kümmert sich nicht darum, er saugt ruhig aus Luft und Erde seine Nahrung ein.«
»Das klingt ganz anders, als Vater und Mutter mir sagten!« erwiderte Wilhelm schüchtern.
»Weiß wohl«, erwiderte der Hagere, »hab aber recht, hab immer recht.«
Wilhelm schwieg, doch aß er nur noch wenig mehr.
»Willst zurück in deine Hütte?« fragte der Hagere, »will dich heut abend nicht länger aufhalten, werden uns schon noch kennenlernen. Nimm mit zu essen, was du willst, habs übrig!«
Er steckte Wilhelm alle Taschen voll Obst und Backwerk. Dann fuhr er fort:
»Sollst lieben Vater, liebe Mutter doch schnell noch einmal sehen, siehst sie wohl gern?«
Auf einmal war es eine kalte Mondnacht, Wilhelm befand sich mit dem langen, hageren Manne auf einem luftigen Revier, ihm klapperten die Zähne, halb vor Angst, halb vor Frost. Der Mond verhüllte sich hinter Wolken; Na erschien tänzeln und spielend ein langer Zug kaum sichtbarer Gestalten, unter welchen Wilhelm mit Entsetzen seine Eltern erkannte. Diese gebärdeten sich vor allen lustig; sie hüpften an ihm vorüber und warfen, obgleich sie ihn wohl bemerkten, gleichgültige Blicke auf ihn. Der Hagere nickte ihm mit grinsendem Lächeln zu und sagte:[278] »Hast dus gesehen? Hätte Theodor hier gestanden, wären sie freundlicher gewesen; wirsts glauben!«
Plötzlich kehrte die alte Dunkelheit zurück, der Sturm brauste fürchterlich, der Regen klatschte, und Wilhelm stand vor der Hüttentür. Er trat schnell hinein.
»Ach, Wilhelm, bist du wieder da?« rief Theodor ihm entgegen, »ich fürchtete, daß ich dich niemals wiedersehen würde, denn ich sah dich in einem wilden Meer von Flammen, die sich immer dichter um dich zusammenringelten und dich zuweilen ganz zu verschlingen schienen; ja einmal kam es mir sogar vor, als ob du Flammen äßest. Ich stand am Fenster und rief dir zu, du möchtest beten; dann aber lachte es auf gräßliche Weise hinter mir; ach, Wilhelm, laß mich nicht wieder allein.«
»Ich bringe dir etwas zu essen mit«, erwiderte Wilhelm einsilbig, »nimm hin, Obst und Kuchen!«
Der kleine Theodor streckte hastig die Hand aus nach den dargebotenen Leckerbissen, doch kaum hatte er sie zum Munde geführt, als er ausrief: »Pfui, Wilhelm, das ist unartig von dir, mich jetzt zu necken; du gibst mir ja nichts als faules Holz!«
»Was?« versetzte Wilhelm, »diese Kuchen und diese schönen Birnen wären faules Holz? Dich hat der Hunger wohl schon verrückt gemacht. Mir schmecken sie vortrefflich!«
Mit großem Vergnügen verzehrte er noch einen der Kuchen.
Theodor versuchte sie abermals, als er sie indes wieder ausspeien mußte, fing er an, bitterlich zu weinen.
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