12


Der Philanthrop

[224] Das waren zwei liebe Geschwister,

Die Schwester war arm, der Bruder war reich.

Zum Reichen sprach die Arme:

»Gib mir ein Stückchen Brot.«


Zur Armen sprach der Reiche:

»Laß mich nur heut in Ruh'.

Heut geb ich mein jährliches Gastmahl

Den Herren vom großen Rat.


Der eine liebt Schildkrötensuppe,

Der andre Ananas,

Der dritte ißt gern Fasanen

Mit Trüffeln von Périgord.


Der vierte speist nur Seefisch,

Der fünfte verzehrt auch Lachs,

Der sechste, der frißt alles,

Und trinkt noch mehr dazu.«


Die arme, arme Schwester

Ging hungrig wieder nach Haus;

Sie warf sich auf den Strohsack

Und seufzte tief und starb.


Wir müssen alle sterben!

Des Todes Sense trifft

Am End' den reichen Bruder,

Wie er die Schwester traf.


Und als der reiche Bruder

Sein Stündlein kommen sah,

Da schickt' er zum Notare

Und macht' sein Testament.
[224]

Beträchtliche Legate

Bekam die Geistlichkeit,

Die Schulanstalten, das große

Museum für Zoologie.


Mit edlen Summen bedachte

Der große Testator zumal

Die Judenbekehrungsgesellschaft

Und das Taubstummeninstitut.


Er schenkte eine Glocke

Dem neuen Sankt-Stephans-Turm;

Die wiegt fünfhundert Zentner

Und ist vom besten Metall.


Das ist eine große Glocke

Und läutet spat und früh;

Sie läutet zum Lob und Ruhme

Des unvergeßlichen Manns.


Sie meldet mit eherner Zunge,

Wieviel er Gutes getan

Der Stadt und seinen Mitbürgern

Von jeglicher Konfession.


Du großer Wohltäter der Menschheit!

Wie im Leben, soll auch im Tod

Jedwede deiner Wohltaten

Verkünden die große Glock'!


Das Leichenbegängnis wurde

Gefeiert mit Prunk und Pracht;

Es strömte herbei die Menge

Und staunte ehrfurchtsvoll.
[225]

Auf einem schwarzen Wagen,

Der gleich einem Baldachin

Mit schwarzen Straußfederbüscheln

Gezieret, ruhte der Sarg.


Der strotzte von Silberblechen

Und Silberstickerei'n;

Es machte auf schwarzem Grunde

Das Silber den schönsten Effekt.


Den Wagen zogen sechs Rosse,

In schwarzen Decken vermummt;

Die fielen gleich Trauermänteln

Bis zu den Hufen hinab.


Dicht hinter dem Sarge gingen

Bediente in schwarzer Livree,

Schneeweiße Schnupftücher haltend

Vor dem kummerroten Gesicht.


Sämtliche Honoratioren

Der Stadt, ein langer Zug

Von schwarzen Paradekutschen,

Wackelte hintennach.


In diesem Leichenzuge,

Versteht sich, befanden sich auch

Die Herren vom hohen Rate,

Doch waren sie nicht komplett.


Es fehlte jener, der gerne

Fasanen mit Trüffeln aß;

War kurz vorher gestorben

An einer Indigestion.
[226]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 224-227.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte 1853 und 1854
Gedichte. 1853 und 1854
Gedichte: 1853 und 1854

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon