Michel nach dem März

[371] Solang ich den deutschen Michel gekannt,

War er ein Bärenhäuter;

Ich dachte im März, er hat sich ermannt

Und handelt fürder gescheuter.


Wie stolz erhob er das blonde Haupt

Vor seinen Landesvätern!

Wie sprach er – was doch unerlaubt –

Von hohen Landesverrätern.


Das klang so süß zu meinem Ohr

Wie märchenhafte Sagen,

Ich fühlte, wie ein junger Tor,

Das Herz mir wieder schlagen.


Doch als die schwarzrotgoldne Fahn',

Der altgermanische Plunder,

Aufs neu' erschien, da schwand mein Wahn

Und die süßen Märchenwunder.


Ich kannte die Farben in diesem Panier

Und ihre Vorbedeutung:

Von deutscher Freiheit brachten sie mir

Die schlimmste Hiobszeitung.
[371]

Schon sah ich den Arndt, den Vater Jahn –

Die Helden aus andern Zeiten

Aus ihren Gräbern wieder nahn

Und für den Kaiser streiten.


Die Burschenschaftler allesamt

Aus meinen Jünglingsjahren,

Die für den Kaiser sich entflammt,

Wenn sie betrunken waren.


Ich sah das sündenergraute Geschlecht

Der Diplomaten und Pfaffen,

Die alten Knappen vom römischen Recht,

Am Einheitstempel schaffen –


Derweil der Michel geduldig und gut

Begann zu schlafen und schnarchen,

Und wieder erwachte unter der Hut

Von vierunddreißig Monarchen.


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 371-372.
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