23.

König Harald Harfagar

[303] Der König Harald Harfagar

Sitzt unten in Meeresgründen

Bei seiner schönen Wasserfee;

Die Jahre kommen und schwinden.


Von Nixenzauber gebannt und gefeit,

Er kann nicht leben, nicht sterben;

Zweihundert Jahre dauert schon

Sein seliges Verderben.


Des Königs Haupt liegt auf dem Schoß

Der holden Frau, und mit Schmachten

Schaut er nach ihren Augen empor;

Kann nicht genug sie betrachten.


Sein goldnes Haar ward silbergrau,

Es treten die Backenknochen

Gespenstisch hervor aus dem gelben Gesicht,

Der Leib ist welk und gebrochen.


Manchmal aus seinem Liebestraum

Wird er plötzlich aufgeschüttert,

Denn droben stürmt so wild die Flut,

Und das gläserne Schloß erzittert.


Manchmal ist ihm, als hört' er im Wind

Normannenruf erschallen;

Er hebt die Arme mit freudiger Hast,

Läßt traurig sie wieder fallen.


Manchmal ist ihm, als hört' er gar,

Wie die Schiffer singen hier oben

Und den König Harald Harfagar

Im Heldenliede loben.
[303]

Der König stöhnt und schluchzt und weint

Alsdann aus Herzensgrunde.

Schnell beugt sich hinab die Wasserfee

Und küßt ihn mit lachendem Munde.


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 303-304.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Neue Gedichte
Neue Gedichte
Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe / Neue Gedichte
Neue Melodien spiel ich: Gedichte (Insel Bücherei)
Neue Gedichte: Deutschland. Ein Wintermärchen. Atta Troll (insel taschenbuch)
Neue Gedichte