22.

Begegnung

[301] Wohl unter der Linde erklingt die Musik,

Da tanzen die Burschen und Mädel,

Da tanzen zwei, die niemand kennt,

Sie schaun so schlank und edel.


Sie schweben auf, sie schweben ab,

In seltsam fremder Weise;

Sie lachen sich an, sie schütteln das Haupt,

Das Fräulein flüstert leise:
[301]

»Mein schöner Junker, auf Eurem Hut

Schwankt eine Neckenlilie,

Die wächst nur tief in Meeresgrund –

Ihr stammt nicht aus Adams Familie.


Ihr seid der Wassermann, Ihr wollt

Verlocken des Dorfes Schönen.

Ich hab Euch erkannt, beim ersten Blick,

An Euren fischgrätigen Zähnen.«


Sie schweben auf, sie schweben ab,

In seltsam fremder Weise,

Sie lachen sich an, sie schütteln das Haupt,

Der Junker flüstert leise:


»Mein schönes Fräulein, sagt mir, warum

So eiskalt Eure Hand ist?

Sagt mir, warum so naß der Saum

An Eurem weißen Gewand ist?


Ich hab Euch erkannt, beim ersten Blick,

An Eurem spöttischen Knickse –

Du bist kein irdisches Menschenkind,

Du bist mein Mühmchen, die Nixe.«


Die Geigen verstummen, der Tanz ist aus,

Es trennen sich höflich die beiden.

Sie kennen sich leider viel zu gut,

Suchen sich jetzt zu vermeiden.
[302]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 301-303.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Neue Gedichte
Neue Gedichte
Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe / Neue Gedichte
Neue Melodien spiel ich: Gedichte (Insel Bücherei)
Neue Gedichte: Deutschland. Ein Wintermärchen. Atta Troll (insel taschenbuch)
Neue Gedichte