Christnacht

[53] Moderne Ballade aus der Zeit des Sozialistengesetzes


Der Kaiser rief: »Reserve her!

Ins Glied, getreue Herden!

Allein Gott in der Höh sei Ehr'!

Schlagt an das Repetiergewehr,

Und Friede sei auf Erden!«

Choräle schallen in schimmernden Hallen,

Der Pfaff schrie: »Jesus machte uns gleich.

Den Menschenkindern ein Wohlgefallen,

In einer Krippe das Himmelreich!«


Der Engel zu Kommerzrats kam

Mit Atlaskleid und Schleppe,

Mit Flittertand und Flatterkram,

Dekolletiert und ohne Scham

Wie eine feine Schneppe.

Bei Schnepfendrecke und Austerngeschlecke

Der Börsenkönig sein Bäuchlein strich,

Champagnerpfropfen knallten zur Decke –

Jesus von Nazareth, freue dich!
[54]

Durch eisige Gassen schritt der Wind

In weißem Totenkleide

Und mähte auf dem Weg geschwind

Ein ausgezehrtes Bettelkind

Mit seines Messers Schneide.

Pfiff um ein fadenscheiniges Dach,

Fuhr durch den Schornstein ins Zimmer,

Da tönte schwach durchs Bodengemach

Eines Säuglings flehend Gewimmer.


Die Mutter trug ihn auf dem Arm:

Wie stillt sie sein Verlangen?

Ihr Auge hohl von langem Harm,

Und Kinder rings, daß Gott erbarm!

Mit kreidebleichen Wangen.

Die Hungergeister tanzten den Reigen,

Das Unheil hockt' auf dem Ofenrost,

Der Jammer hub an Krescendo zu geigen,

Die Not fraß Spinnen als Vesperkost.


Da starrt der ausgesperrte Mann,

Sah Weib und Kinder weinen

Und sann und starrte, starrt' und sann

Und schrie die nackten Wände an:

»Brot, Brot! Brot für die Meinen!«[55]

Weil mit eigener Hand für seinen Stand

Er gewählt nach Pflicht und Gewissen,

Hat mit eigener Hand ihm der Fabrikant

Seinen Lohn vor die Füße geschmissen ...


Die Türe seufzte jämmerlich:

Gebt Raum dem Polizisten!

Der alte Scherge schämte sich:

»Ausweisungsordre – dauert mich –

Doch Ihr seid Sozialisten.«

Tür kracht. Wie Eisenrädergeschmetter

Brach der gemarterte Lohnsklav los:

»Fluch, Fluch! Ein höllisches Donnerwetter

Schleudre die Schurken in Jesu Schoß!«


Wie wenn des Dampfes Schwall, gezwängt

In die metallne Fessel,

Urplötzlich wild nach außen drängt

Und unaufhaltsam treibt und sprengt

Und zischend leert den Kessel:

So schoß dem Eisendreher empor

Aus dem erzgepanzerten Herzen

Mit Zischen und Brausen ein brodelnder Chor,

Der dampfende Gischt seiner Schmerzen.


»Die Ketten klirren Hohn und Spott,

Die Ketten klirr'n im Nacken,[56]

Uns hilft kein Heiland, hilft kein Gott,

Die Ketten klirren Hohn und Spott,

Die Ketten klirr'n im Nacken.

Zu feiernder Stund', wo im Weltenrund

Halleluja! die Engel trompeten,

In des Elends Schlund wie ein räudiger Hund,

Wie ein räudiger Hund getreten!«


Er schwang den Hammer in der Faust

Und wuchs empor, ein Grauen;

Die Kinder vor dem Vater graust,

Er schwang den Hammer in der Faust,

Entsetzlich anzuschauen.

Und wie von prophetischem Geist entbrannt,

Im Hirne verheerende Gluten,

Umspannt er des ältesten Knaben Hand,

Seine Worte fluten und bluten:


»Ich hör's und seh's: das Rottuch weht,

Im Sturmschritt die Kolonnen;

Eilt, Brüder, eilt! – was kommt ihr spät?

Hoch auf der Barrikade steht

Das Häuflein blutberonnen.

Die Lücke schließt! Kartätschen prasseln,

Des Kaisers Garden – Genossen, Sturm!

Kommandorufe! Kanonen rasseln,

Die Glocken heulen von Turm zu Turm.
[57]

Nun schwöre deinem Vater, Sohn,

In heiliger Freiheit Namen,

Zum Todeskampf mit Schmach und Fron

Den Eid der Revolution –

Und sei kein Schurke! Amen.«

Hohl heulte vermummte Verschwörergesänge

Der Wind im Ofen mit dräuendem Ton

Und trieb mit des Aschenvolks totem Gemenge

Eine frische, fröhliche Rebellion.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


Der Scherge stieß sie vor sich her

Wie eine Hammelherde.

Allein Gott in der Höh sei Ehr'! –

Ein roher Knuff zur Wegeszehr –

Und Frieden auf der Erde!

Choräle schallen, Sektpfropfen knallen,

Lump, stirb, verdirb, du roter Hallunk!

Den Menschenkindern ein Wohlgefallen,

Dem Kanzler Fackeln und Minnetrunk!

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 53-58.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon