Des Schülers Klage

[62] Die Mitternacht ging längst vorbei –

Wenn ich nur früh genug erwache

Und meinen Aufsatz fertig mache:

»Wie Cicero zu preisen sei!«

Welch öder Firlefanz,

Schönredner-Mummenschanz!

Fahl gähnt mich grauenhafte Leere

Aus diesem Phrasenspiegel an.

Zu eines hohlen Schwätzers Ehre

Wie man doch fleißig flunkern kann!

Das ist ein Plunder

Ohnegleichen,

Wer wird den Zunder

Der Zerstörung reichen?

Soll das Verderben fressend immer weiter schleichen?


Mit all den toten Formeln, Regeln

Soll ich durch Wind und Wellen segeln?

Ich hör' die Welt da draußen branden,

Ein Schauder fährt mir durchs Gebein,

Als blinder Schiffer muß ich stranden –

Und schreibe klassisches Latein.[63]

Kann Roms Monarchen 'runterhaspeln

Von Cäsar bis Augustulus,

Kann klafterweise Süßholz raspeln

Zum Überdruß.

Kann wie 'ne Puppe konjugieren,

Am Schnürchen plappr' ich's nur so hin,

Und muß mich vor mir selbst genieren,

Frag' ich nach Lebens Ziel und Sinn.

Ich mach' euch recht ein brav Examen,

Ich rede noch zum Publikum,

Den eingeladnen Herrn und Damen,

De regibus Macedonum

Und bin ja doch – in Gottes Namen! –

Mordsmicheldumm.

Gepfropft mit Reisig der Verstand,

Die Lust zur Tat, des Sehnens Brand

Erstickt mit hagrer Knochenhand!


Die meiner Jugend Feierkleid

Mit dürrer Vettelfaust zerfetzt,

Die meine gärende Heiterkeit

Mit mürrischem Geißelhieb verletzt;

Die den emporgereckten Sinn

Zum Kleinlichen herniederzwang,

Ich fluche dir, Zerstörerin,

Und hasse dich mein Leben lang.
[64]

Mit deinem Wust sollst du vergehn,

Sturm soll durch Staub und Moder wehn,

Und ein Geschlecht, des Mutterwort

Nicht auf der Schulbank schon verdorrt,

Drin unsres Volkes Bild und Art

Sich wunderquellend offenbart,

Geist, der sich Bahn zur Sonne bricht,

Blüh auf, blüh auf im Morgenlicht!

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 62-65.
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Gedichte und Satiren

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»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

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