Blick nach innen

[89] Wieder ruf' ich Dich mit Weinen,

Komm, o komm, Du treuer Hirt!

Unter Dornen, unter Steinen

Hat Dein Lämmlein sich verirrt.


O, Du bist ja voll Erbarmen,

Guter Hirt, erbarme Dich!

Trage mich auf Deinen Armen,

Milder Arzt, und heile mich!


Ach, die Thorheit und die Sünde

Herrschen noch im Herzen mein,

Was ich denke, was empfinde,

Meint nicht lauter Dich allein.


Meine Triebe, falsche Schlangen,

Hintergehn mich noch so oft;

All mein Sehnen, mein Verlangen

Hat nicht bloß auf Dich gehofft.
[90]

Und doch sollte tiefe Reue

Lebenslang mein Bußkleid sein,

Und es sollten Lieb' und Treue

Ewig Dir zur Braut mich weihn.


Denn die Thorheit früher Jugend

Hab' ich nie genug verflucht,

Und der Demuth stille Tugend

Hab' ich nie mit Ernst gesucht.


Doch fortan mein ganzes Leben,

Lust und Schmerzen, Fried' und Streit,

Will ich Dir nun ganz ergeben:

Führe mich, ich bin bereit.


Ja, Du führst in Lieb' und Gnade

Mich an Deiner treuen Hand,

Führest mich auf sicherm Pfade

In Dein ewig Friedensland. Amen.


Berlin, 1818.


Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 89-91.
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