Reiseplan

[54] Ein Täublein will von der Erde fliehn,

Fliegt auf zum Himmelsblau:

»Ade, ihr Wälder und Felder grün!

Ade, du bunte Au!«


Ach Täublein, warte ein Weilchen noch,

Magst nochmals um dich sehn;

Ach Täublein, bleib' hienieden doch,

Die Erd' ist ja so schön!


»Wozu denn hat mir Flügelein

Der liebe Gott verliehn?

Ich kann nicht länger auf Erden sein,

Laß mich von hinnen ziehn!«
[55]

Das Täublein fliegt hoch in die Höh',

Läßt alle Freuden gern;

Doch thun ihm plötzlich die Flüglein weh,

Der Himmel ist noch so fern.


Da steht ein hohes Felsgestein;

Das Täublein ruhen begehrt.

Da sitzt es verlassen, die Aeugelein

Zum Himmel, zur Erde gekehrt.


Ein andres Täublein fliegt auch auf

Mit müden Flügelein:

»Ach weh, wir kommen nicht hinauf,

Was sitzen wir auf dem Stein?


Was sitzen wir auf dem öden Stein?

Da unten war's lustig und grün.« –

»Dort oben muß es schöner sein:

Laß uns von hinnen ziehn!


Doch hast du ein stäubig Federlein

In deinem Flügelpaar;

Komm her, ich rupf' es dir sanft und fein,

Dann bist du silberklar.«
[56]

»Auch du hast wohl ein Federlein,

Das ist nicht silberklar;

Ich rupf' dir's aus mit dem Schnäbelein,

Dann bist du glänzend gar.«


Sie putzen sich die Flügelein

Und fliegen hoch hinauf,

Dann nehmen sie die Engelein

In ihre Schaaren auf.


Berlin, 1816.

Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 54-57.
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Lieder (Ausgabe von 1879)
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