Erstes Gespräch

[13] PHILOLAUS. Sehen Sie, Theophron, die erquickende Stunde, die nach dem schrecklichen Gewitter folgt. Schwefelwolken thürmten sich auf, die uns den Anblick der Sonne nahmen und alles Irdische in schwerer Othem setzten; sie sind zertrümmert, und Alles haucht wieder leicht und fröhlich. So stelle ich mir den Zustand der Wissenschaft vor, da Spinoza und Seinesgleichen der Welt den Anblick Gottes mit ihren schweren Dünsten rauben wollten; diese thürmten sich auch zum Himmel empor und umzogen das Firmament; aber eine gesundere Philosophie hat sie wie die Riesen hinuntergestürzt, und der nachdenkende Geist erblickt die strahlende Sonne wieder.

THEOPHRON. Haben sie den Spinoza gelesen, lieber Freund?

PHILOLAUS. Gelesen habe ich ihn nicht; wer wollte auch jedes dunkle Buch eines Unsinnigen lesen? Aber das habe ich aus dem Munde Vieler, die ihn gelesen haben, daß er ein Atheist und Pantheist, ein Lehrer der blinden Nothwendigkeit, ein Feind der Offenbarung, ein Spötter der Religion, mithin ein Verwüster der Staaten und aller bürgerlichen Gesellschaft, kurz, ein Feind des menschlichen Geschlechts gewesen und als ein solcher gestorben sei. Er verdient also den Haß und Abscheu aller Menschenfreunde und wahren Philosophen.

THEOPHRON. Die Gewitterwolke indessen verdiente ihn nicht, mit der Sie ihn eben verglichen haben; denn auch sie gehört zur Naturordnung und ist heilbringend und nützlich. Aber, ohne Gleichniß zu reden, haben Sie, mein Freund, auch nichts Näheres Bestimmtes über Spinoza gelesen, woran wir uns im Gespräch halten könnten?

PHILOLAUS. Vieles, z.B. den Artikel über ihn in Bayle.

THEOPHRON. An Bayle haben Sie diesmal nicht eben den besten[13] Gewährsmann. Er, dem sonst alle Systeme gleichgiltig waren, weil er selbst kein System hatte, blieb in Absicht des Spinoza nicht gleichgiltig. Er nahm eifrig Partei gegen denselben, wozu ihn ohne Zweifel Umstände der Zeit und des Orts veranlaßten. Vielleicht lebte er dem Verstorbnen zu nahe; die Lehre, ja selbst der Name des Spinoza war damals ein Schimpfwort, wie beide es großentheils noch jetzt sind; alles Ungereimte und Gottlose nannte und nennt man zum Theil noch Spinozistisch. Nun war es des feinen Dialektikers Bayle wol nicht, ein System als System zu ergründen und mit dem tiefsten Gefühl der Wahrheit ganz zu beherzigen. Er durchflog alle Lehrgebäude, nahm scharfsinnig ihre Verschiedenheiten auf, sofern sie ihm zu seinen Zweifeln dienten; jetzt war ihm diese Meinung wichtig, jetzt eine andre; von dem aber, was innere philosophische Ueberzeugung heißt, hatte er bei seiner leichten Denkart schwerlich einen Begriff, wie solches sein Wörterbuch beinahe unwidersprechlich zeigt.

PHILOLAUS. Sein Wörterbuch und seine übrigen Schriften. Auch ich habe mich oft gewundert, wie ein so scharfsinniger Mann in seinen Meinungen so unstät, so unzusammenhangen sein konnte. Jetzt ist ihm dieser wichtige Gedanke, jetzt jene Ungereimtheit gleich wichtig; eine falsch citirte Jahrzahl des Moreri und die Frage, ob ein Gott sei, wieviel derselben seien, woher das Böse in der Welt entspringe u. dergl. beschäftigen ihn mit gleichem Interesse. Ich glaube aber, das gehöre zum Wörterbuchschreiber.

THEOPHRON. Dahin wollen wir Bayle nicht setzen, ob er gleich ein Wörterbuch schrieb, auch in diesem zeigt sich allenthalben der Selbstdenker mit einer leichten Gewandtheit des scharfsinnigsten Gedankenspieles. Nennen Sie mir einen andern Schriftsteller, der so viel und vielerlei mit gleicher Anmuth, mit gleicher Aufmerksamkeit umfaßt oder berührt hätte. Er war philosophisch-historische Voltaire seiner Zeit, dessen Liebhaberei sich vom erhabensten Gegenstande bis zur kleinsten Kleinigkeit eines historischen Umstandes, einer Anekdote, eines Büchertitels oder gar einer Zote erstreckte. Für einen Geist solcher Art war nun Spinoza's System eben nicht. Dieser eingeschlossene, schwere Denker hatte von Allem, was Meinung war, einen vielleicht zu wegwerfenden Begriff und[14] ging mit mathematischer Genauigkeit der reinen Wahrheit nach, wo er solche zu finden glaubte. Für sie vergaß er alles Andre, und von Bayle's Gelehrsamkeit, von seinem Witz und Scharfsinn hatte er vielleicht nicht Eins gegen Tausend. Zwei Köpfe solcher Art werden einander schwerlich Gerechtigkeit widerfahren lassen, und doch bin ich überzeugt, hätte es Spinoza gegen den Verfasser des Wörterbuchs eher gethan, als der muntre, vielgeschäftige Bayle es gegen Spinoza thun mochte. Diesem warf man schon in seinem Leben vor, daß er Spinoza's System nicht recht gefaßt habe, und er hat sich gegen diesen Vorwurf in einem Briefe vertheidigt.1

PHILOLAUS. Uebel also für Spinoza; denn für den größten Haufen hat eben doch Bayle festgesetzt, den man von ihm hegt. Wie Wenige lesen Spinoza's dunkle Schriften, und alle Welt liest den tausendfach abwechselnden, angenehmen Bayle.

THEOPHRON. So ist's, mein Freund, und doch auch nicht ganz also. Für das leichte Heer von Lesern hat Bayle den Begriff von Spinoza fixirt; leider aber für den schweren Phalanx haben es meistens streitende Philosophen und Theologen gethan, und da ist ihm noch übler begegnet. Es ging ihm nach dem Evangelio: seine nächsten Hausgenossen wurden seine ärgsten Feinde, die Cartesianer. Sie wollten und mußten ihre Philosophie, von der er ausgegangen war, und mit deren Worten er sprach, von der seinigen absondern, damit nicht auch sie den Verdacht des Spinozismus kämen; natürlich hat sich diese philosophische Behutsamkeit von des Cartesius Schule auf jede nachfolgende verbreitet. Noch bitterer gingen die Theologen fast aller Confessionen gegen ihn los; denn er hatte nicht nur über das Judenthum und die Bücher des Alten Testaments seine Meinung sehr frei, ihnen sehr anstößig geäußert, sondern, welches ihnen viel ärger dünken mußte, er hatte zuerst vorzüglich gegen sie die Feder ergriffen. Ihrer Streitsucht, ihren Zänkereien schrieb er einen großen Theil vom Verfall des Christenthums, vor der Unwirksamkeit der schönsten Lehrsätze desselben zu, und ob er dies gleich ohne Bitterkeit that, so können Sie sich doch leicht die Aufnahme seines Buchs vorstellen.

PHILOLAUS. Die ist mir vor Augen. Hitzigen Parteien darf nur ein Friedensstifter ohne Vollmacht zwischentreten, und er hat beide gegen sich. Welche Vollmacht aber hatte der Jude Spinoza?[15]

THEOPHRON. Keine andre Vollmacht, als die er glaubte aus der Hand der Billigkeit empfangen zu haben; nur freilich bediente er sich derselben nicht eben auf weltkluge Weise. Er machte seine religiöse Politik in einem Werk bekannt, dessen Theologie Juden und Christen aufbringen mußte;2 seine politischen Grundsätze waren so strack, so schnurgerade, daß sie der damaligen Zeit gewiß nicht eingehen konnten. Dem Staat räumte er das völlige Recht ein, den äußern Gottesdienst anzuordnen; der Vernunft behielt er die uneingeschränkte Freiheit des Gebrauchs ihrer Kräfte vor: Beides dünkte den Meisten so übertrieben, als ob er Feuer und Wasser mischen wollte. Seine Theorie also mußte nothwendig scheitern, wie sie dann in Manchem auch uns noch jetzt zu hart, zu Hobbesisch dünkt, ob mir gleich in Grundsätzen der Duldung weit vorgerückt sind. – Locke, Bayle, Schaftesbury u. A. gingen leiser.

PHILOLAUS. Und doch mußten auch sie dulden, eh ihre billigsten Sätze allgemein anerkannt wurden. In Materien solcher Art hat freilich ein disputirender Dialektiker wie Bayle oder ein einkleidender Dichter wie Voltaire viel Vortheil vor dem ernsten Philosophen, der seine Sätze strack hinstellt. Jene dürfen und können immer sagen: »Ich habe nur disputirt, Wahres und Falsches einander entgegengestellt und Beides eingekleidet; man wähle!« In diesem angenommenen, immer veränderten Gewande gehen sie nicht nur sicherer, sondern wirken auch allgemeiner. Bayle machte gewiß auf sein Zeitalter mehr Wirkung als Spinoza und Leibniz, Voltaire mehr als Rousseau oder als andere noch strengere Philosophen.

THEOPHRON. Wie man's nimmt, Philolaus; es giebt eine zwiefache Wirkung. Eine breitet sich weit umher; eine andre wurzelt um so fester. Ich wollte, daß ein philosophisch-kritischer Mann, kein Jüngling, zu unsrer Zeit den theologisch-politischen Versuch des Spinoza mit Anmerkungen herausgäbe.3 Es wäre ein nützlicher[16] Versuch, zu sehen, was die Zeit in ihm bekräftigt oder widerlegt habe. In der Kritik über die Schriften des Alten Testaments haben seitdem Manche Manches als eine neue Entdeckung, dazu unvollkommener gesagt, das in Spinoza bereits gründlicher stand. Im Punkt der Toleranz hat die Natur unsrer Staaten beinah keinen andern Weg nehmen mögen, als den ihr Spinoza damals zu allgemeinen Haß vorzeichnete. Freilich ist in diesem Werk wie in allen seinen andern Schriften Alles hart gesagt; für Werke der Einbildungskraft, Poesie z.B., hatte Spinoza nur einen metaphysischen Sinn; in der ganzen Composition seines Werks ist er ein einsamer Denker, dem die Grazie des Weltumganges, des einschmeichelnden Vortrages unbekannt war und, wie mich dünkt, wol auch unbekannt sein durfte.

PHILOLAUS. Nur darauf setzen Sie es, Theophron? Ein Mensch ohne gesunde Grundsätze, ein Atheist, ein Pantheist u.s.w., über welche Materie könnte der schreiben, daß er bei Vernünftigen Eingang fände? Er soll sogar den Pantheismus und Atheismus haben demonstriren wollen; was geht über den Unsinn?

THEOPHRON. Den Atheismus und Phanteismus demonstriren? und beide zugleich? Wie sind beide in einem und demselben System möglich? Der Pantheist hat doch immer einen Gott, ob er sich gleich in der Natur Gottes irrt; der Atheist hingegen, der Gott schlechterdings leugnet, kann weder Pantheist noch Polytheist sein, wenn man nicht mit den Namen spielt. Ueberdem, mein Freund, wie kann man den Atheismus, d.i. eine Negation erweisen?

PHILOLAUS. Warum nicht, wenn man einen innern Widerspruch im Begriff von Gott entdeckte oder zu entdecken glaubte?

THEOPHRON. Einen innern Widerspruch im einfachsten, im höchsten Begriff, dessen die Menschheit fähig ist? Ich bekenne, daß ich davon nichts begreife.

PHILOLAUS. Deshalb war er auch ein Unsinniger, der demonstriren wollte, was nicht zu demonstriren war; denn unsre neue Philosophie sagt laut: »Weder daß ein Gott sei, noch daß er nicht sei, ist zu demonstriren. Das Erste muß man als Postulat annehmen und – glauben

THEOPHRON. »So«, würde ein Andrer sagen, »müßte es wenigstens freistehn, ›Eins von Beiden zu glauben und als Postulat anzunehmen, d.i. Atheist, Deist oder Theist zu sein, nachdem wir Glauben haben‹.« – Doch lassen Sie diesen Punkt unberührt:[17] Spinoza sei Atheist, Phantheist oder eine Zwittergestalt von beiden gewesen, so schmerzen mich die Beiname, die Sie einem Unbekannten geben. In der Philosophie sind wir aus den Zeiten der Ehrentitel hinaus, mit denen Spinoza noch von Kortholt, Brucker und Andern genannt ward. Der Erste glaubte witzig zu sein, wenn er den Benedictus in einen Maledictus und den Namen Spinoza in einen stachlichten Dornbusch verkehrte. Bei Andern sind die Beiworte »frech, gottlos, unsinnig, unverschämt, gotteslästerlich, pestilenzialisch, abscheulich« gewöhnliche Formeln, mit denen sie ihn aus dem Reich der Geister citiren. Ein Erwählter hat sogar das Zeichen der ewigen Verwerfung auf seinem Gesicht gefunden, Andre haben ihn auf seinem Todesbette um Erbarmung winseln hören. Ich bin kein Spinozist und werde nie einer werden; die Art aber, mit der man über diesen verlebten stillen Weisen die Urtheile des vorigen Jahrhunderts, des jämmerlichsten Streitjahrhunderts, noch zu unsrer Zeit wiederholen will, ich gestehe es, mein Freund Philolaus, ist mir unerträglich. Hier haben Sie ein Büchelchen von acht Bogen,4 in denen noch dazu das Meiste ein Gemisch von Anmerkungen ist, die Sie ganz überschlagen dürfen; es ist nichts als das Leben Spinoza's, sehr trocken, aber mit historischer Genauigkeit erzählt; denn man sieht, daß der Verfasser um jeden Umstand besorgt gewesen. Ein unparteiischer Mann hat es geschrieben, kein Spinozist, sondern ein evangelischer Pastor, der »vor Gott bezeugt, daß er in Spinoza's ›Theologisch-politischem Tractat‹ nichts Gründliches gefunden, noch etwas, das in dem Glaubensbekenntniß, womit er den evangelischen Wahrheiten zugethan ist, ihn im Geringsten auf der Welt zu beunruhigen fähig gewesen, weil anstatt der gründlichen Beweise man nichts als vorausbegebungene Sätze, und was man in den Schulen petitiones principii nennt, darinnen finde«. Einem so vorsichtigen Führer können Sie Sich sicher anvertrauen, wenn sie den Mann näher kennen wollen.5 – Meine Geschäfte rufen mich weg; bald sehen wir uns wieder. Wenn Sie hineinblicken wollen, so lege ich Ihnen auch des Atheisten Werke selbst hin; leider sind es nur zwei kleine Bände.

PHILOLAUS. Ich begreife den Theophron nicht. Für einen[18] Demonstrator solcher Art sich zu verwenden! und was soll mir hierüber sein Leben einem evangelischen Pastor, also geschrieben und also gedruckt, sagen?


* * *


Ein sonderbarer Mann, dieser Spinoza. Wie auch sein System sein möge; es ist etwas Wahrheitsuchendes, Standhaftes und Selbstbeständiges in seinem Charakter und Leben. Er legt sich auf die jüdische Theologie und verläßt sie, um die Naturlehre gründlich zu erlernen; die Werke des Descartes kommen ihm in die Hände, und da er sie mit sonderbarer Begierde gelesen hat und nachher bekennt, daß, was er an philosophischer Erkenntniß besitze, er aus ihnen geschöpft habe, so wendet er sich still vom Judenthum weg, weil er sich überzeugt glaubt, daß er den Lehrsätzen desselben nicht weiter folgen könne. Man bietet ihm ein Jahrgeld von tausend Gulden an, damit er nur fernerhin die Synagoge besuchen möge; er schlägt es aus und zieht sich ohne Geräusch in die Stille. Man thut ihn in dem Bann; er antwortet und lernt in der stille eine Hanthierung, sich selbst zu nähren. Welch ein andres Betragen als in ähnlichen Umständen des unglücklichen, brausenden Acosta,6 der nicht zur Ruhe kommen konnte, bis ihm der Tod Ruhe schaffte! Ich wollte, daß man Spinoza's Antwort auf den Bann der portugiesischen Synagoge in Amsterdam (wenn sie nicht sogleich zerrissen und abgethan ist) erhalten könnte; sie würde uns die Ursache seines Entschlusses, wie mich dünkt, ebenso stark und bündig als sanft und stille sagen; denn es herrscht ein sanftmüthiger, stiller Geist in dieses Mannes Leben. Jetzt verfertigt er optische Gläser und lernt von ihm selbst zeichnen. Der Lebensbeschreiber hat eine Sammlung seiner Zeichnungen in Händen gehabt, darunter auch Personen gewesen, die bei ihm nur einen Besuch abstatteten, die er also wahrscheinlich aus dem Gedächtniß gezeichnet. Unter diesen Uebungen war auch Masaniello in seiner bekannten Fischerkleidung, von dem der Wirth des Spinoza versicherte, daß dies Bild ihm selbst ähnlich gesehen habe. Ein sonderbarer Einfall, sich als Masaniello zu zeichnen; oder vielleicht ein Wirthseinfall. – Nun[19] schleift Spinoza Gläser, seine Freunde verkaufen sie, und der lebt sparsam; in zwei bis drei Tagen sieht er oft Niemand. Viele bieten ihm ihren Beutel und ihre Hilfe an; Alles aber schlägt er bescheiden aus, lebt von geringen Speisen und schließt seine Rechnungen alle Vierteljahre, nur damit er nicht mehr aufwende, als er aufzuwenden habe. Er ist, wie er seinen Hausleuten sagt, eine Schlange, die mit dem Schwanz im Munde einen Zirkel macht, anzuzeigen, daß ihm von seinen Jahrseinkünften nichts übrig bleibe. Ich habe das Symbol unter seinem Bilde gesehen und es thöricht auf sein System gedeutet. Welch ein wahrerer Philosoph in diesem Allen als manche dieses Namens! Er will nicht mehr sammeln, als was nöthig sei, um mit Wohlstand begraben zu werden; er will aber auch Niemanden zur Last fallen und nur durch sich selbst leben. Sein Betragen ist still und friedlich: Herr über seine Leidenschaften, zeigt er sich nie weder sehr traurig noch sehr fröhlich. Gesprächig tröstet er die Leidenden seines Hauses und ermahnt sie, ihre Unglücksfälle als ein »von Gott ihnen zugeschicktes Loos« geduldig zu ertragen; er redet den Kindern zu, daß sie den Gottesdienst fleißig besuchen möchten, und unterrichtet sie, wie sie ihren Eltern gehorsam sein sollten, fragt seine Hausgenossen, welchen Nutzen sie aus der angehörten Predigt geschöpft, und hält hoch von dem erbaulichen, guten Geistlichen, der hier genannt wird.7 »Eure Religion ist gut,« spricht der stille Weise, »Ihr habt nicht nöthig, eine andere zu suchen, noch daran zu zweifeln, daß Ihr dabei die Seligkeit erlangen werdet, sofern Ihr nur der Gottseligkeit Euch ergebt und zugleich ein friedliches und ruhiges Leben führt.« Sein aufrichtigster Freund bietet ihm ein Geschenk von zweitausend Gulden an, um mit einiger mehreren Bequemlichkeit zu leben; er verbittet es freundlich. Jener will ihn zu seinem Erben einsetzen; er nimmt die Wohlthat nicht an und setzt das Jahrgeld, das Dieser ihm in seinen letzten Lebensjahren aufdringt, fast noch um die Hälfte herunter. So lebt er und stirbt in seinem fünfundvierzigsten Jahr ebenso ruhig, als er gelebt hatte. Wenige Stunden vorher hatte er mit seinen Hausleuten noch ein langes Gespräch über die gehörte Predigt, und ehe sie Nachmittags die Kirche verlassen, erblaßt er in Gegenwart seines Arztes. Sein ganzer Nachlaß beträgt nach dem Verkauf 390 Gulden und 14 Stüber, um welche Summe sich noch seine Anverwandten[20] zankten. Ein sanfter Schimmer strahlt durch sein Leben; denn man sieht, wie seine Freunde ihn lieben, wie Alle, die ihn kennen, ihn schätzen, und wie er sich dessen nie überhebt, keinen störrig abweist. Als ihm der Kurfürst von der Pfalz eine Lehrstelle auf seiner Universität antragen ließ, mit der Freiheit, nach seinen Grundsätzen fortzuschließen, wie er es seinem Vorhaben am Dienlichsten finden würde, antwortete er vorsichtig: »er wisse nicht, in welche Schranken die Freiheit, seine Meinungen zu erklären, eingeschlossen sein solle, damit es nicht schiene, daß er die Landesreligion stören wolle«, und nahm den Ruf nicht an.

Von seinen Meinungen weiß ich freilich noch nicht, was ich zu halten habe; selbst aber die hier als irrig angeführten, wahrscheinlich seine ärgsten Stellen tragen bei aller Paradoxie das Siegel der Ueberzeugung Dessen an sich, der diese Meinungen hegte. Er will sie Keinem aufdringen, er will keine Secte stiften, und zwar nicht aus Menschenfurcht, sondern aus Scheu, die Meinungen andrer Menschen auch nach seinem Tode zu stören. Während seines Lebens hat er nichts herausgegeben als einen kleinen Tractat, mit welchem er Ruhe zu stiften gedachte; als diese Bemühung fehlschlug, wohnte er mit seiner Philosophie allein und verbrennt wenige Tage vor seinem Tode noch eine angefangene Uebersetzung des Alten Testaments, damit sie auch nach seinem Tode keinen Unfrieden verursachen möchte. Ich wollte, daß er sie nicht verbrannt hätte; denn hatte sie keinen Werth in sich, so hätte sie die Zeit doch vertilgt.


* * *


Wolan also zu seinen Schriften! Sie sind nach seinem Tode erscheinen; er hatte sie, wie der Augenschein zeigt, für sich selbst geschrieben. Und es sind meistens Fragmente.8


»Von der Besserung des Verstandes und von dem Wege, auf welchem man am Besten zur wahren

Kenntniß der Dinge gelangt.«9


»Belehrt von der Erfahrung, daß Alles, was uns im gemeinen Leben häufig begegnet, ein leerer Tand sei, weil ich sah, daß Alles, was ich fürchtete, in sich selbst weder Böses noch Gutes habe, als[21] sofern das Gemüth dadurch bewegt wird, entschloß ich mich endlich, zu forschen, ob es Etwas gebe, das wahrhaft gut sei und sich mittheile, so daß mit Verwerfung alles Andern die Seele von ihm allein afficirt würde; ja, ob es Etwas gebe, das, wenn ich's fände und hätte, mir einen unverrückten, höchsten und ewigen Freudegenuß gewähren könne. Ich sage, daß ich mich endlich entschlossen; denn dem ersten Anblick nach schien es unrathsam zu sein, um eine mir damals ungewisse Sache eine gewisse verlieren zu wollen; ich sah nämlich die Vortheile, die aus Ehre und Reichthum entspringen, und die ich nicht weiter suchen müßte, sobald ich mich ernstlich nach meinem neuen Zweck wenden wollte. Läge also das höchste Stück in ihnen, so sahe ich wohl, daß ich desselben entbehren müßte; fände es sich aber in ihnen nicht, und ich jagte ihnen doch nach, so müßte ich seiner auch entbehren. Ich überlegte also bei mir selbst, ob es nicht möglich sei, zu meinem neuen Zweck oder wenigstens zur Gewißheit zu kommen, daß es einen solchen gebe, wenn ich auch meine gewöhnliche Lebensweise nicht veränderte; dies versuchte ich oft, aber vergebens. Denn was uns gemeiniglich im Leben vorkommt und von den Menschen (nach ihren Handlungen zu urtheilen) für das höchste Gut angesehen wird, läßt sich auf drei Stücke bringen: auf Reichthümer, Ehre und Lust. Durch alle drei aber wird das Gemüth so zerstreut, daß es an kein anderes Gut irgend gedenken kann. Denn was die Wollust betrifft, so täuscht sie das Gemüth eine Zeit lang, als ob es in einem Gut ruhe, und hindert es damit, an irgend ein anderes Gut zu denken; bald aber folgt auf ihren Genuß die tiefste Traurigkeit, die den Geist, wenn nicht fesselt, so doch stört und stumpf macht. Auch wenn wir Ehre und Reichthum verfolgen, zerstreut sich die Seele, insonderheit wenn wir jene um ihr selbst willen begehren, weil sie uns alsdann ein höchstes Gut dünken. Und zwar zerstreut die Ehre das Gemüth noch mehr als der Reichthum, weil sie fortwährend als ein wahres Gut und als der letzte Zweck geschätzt wird, nach welchem man Alles einrichten müsse. Ferner findet bei Ehre und Reichthümern zwar nicht, wie bei der Wollust, die Reue statt, sondern je mehr man von beiden besitzt; desto mehr freut man sich und wird mehr und mehr angeregt, sie zu vermehren. Schlägt aber bei irgend einem Zufalle die Hoffnung fehl, so bringen beide die größte Traurigkeit. Endlich ist auch die Ehre deswegen ein großes Hinderniß, weil, um sie zu erlangen, man sein Leben nothwendig nach der Denkart andrer Menschen einrichten muß, daß man nämlich fliehe, was sie fliehen, und suche, was sie suchen.[22]

Da ich also sahe, daß dies Alles mir Hinderniß sei, mich auf mein neues Werk zu legen, ja mit demselben in solchem Widerspruch stehe, daß ich von Einem oder dem Andern nothwendig ablassen müsse, so ward ich gezwungen zu forschen, welches von beiden mir nützlicher wäre. Denn ich kam, wie gesagt, in den Fall, ein gewisses Gut für ein ungewisses aufgeben zu wollen. Als ich aber diese Ueberlegung etwas fortgesetzt hatte, so fand ich zuerst, daß, wenn ich meine alte Lebensweise gegen die neue vertauschte, ich immer doch nur ein seiner Natur nach ungewisses Gut gegen ein andres ungewisses aufgebe, das seiner Natur nach nicht ungewiß sein könne, weil ich eben ein festes Gut suchte, sondern das nur sofern zweifelhaft bliebe, ob ich's erreiche. Durch fortgesetztes Nachdenken kam ich gar so weit, einzusehen, daß, wenn ich Alles recht und ganz überlegte, ich gewisse Uebel gegen ein gewisses Gut vertauschte. Ich sah nämlich, daß ich in der größten Gefahr schwebte und in der Noth wäre, ein auch ungewisses Rettungsmittel mit allen Kräften zu suchen; wie der Kranke, der, wenn er kein Mittel braucht, den gewissen Tod vor sich sieht, auch ein ungewisses Mittel mit allen Kräften suchen muß, da seine ganze Hoffnung darauf beruht. Alle die Dinge aber, denen der große Haufe nachstrebt, gewähren nicht nur kein Mittel zur Erhaltung unsers Seins, sondern sie verhindert dasselbe auch und sind oft die Ursache des Untergangs Derer, die sie besitzen, immer aber die Ursache des Untergangs derer, die von ihnen besessen werden.

Es giebt viele Beispiele von Menschen, die ihres Reichthums wegen sich bis auf den Tod verfolgen ließen, auch Beispiele von Menschen, die, um Güter zu erlangen, sich so vielen Gefahren aussetzen, daß sie endlich ihre Thorheit mit dem Leben büßten. Nicht wenigere giebt es, die, um Ehre zu erlangen oder zu erhalten, aufs Elendeste litten. Unzählige Beispiele endlich sind von solchen vorhanden, die durch übermäßige Wollust ihren Tod beschleunigt haben. Alle diese Uebel scheinen mir daher zu kommen, daß das ganze Glück oder Unglück in der Beschaffenheit des Gegenstandes liegt, dem wir mit Liebe zugethan sind. Denn um etwas, was man nicht liebt, entsteht kein Streit; man grämt sich nicht darüber, wenn es verschwindet; man fühlt keinen Neid, wenn es ein Anderer besitzt, keine Furcht, keinen Haß, kurz keine Gemüthsbewegung; welches Alles zutrifft, wenn man so vergängliche Dinge liebt, wie alle die sind, von denen wir bisher geredet haben. Liebe aber zu einem ewigen und unendlichen Gegenstande kann nur Freude der Seele gewähren, eine Freude, die von keiner[23] Traurigkeit weiß; wahrlich, ein sehr wünschenswürdiger Zweck, nach welchem man mit allen Kräften streben müßte! Ohn' Ursach aber bediene ich mich nicht des Ausdrucks: wenn ich mich nur ernstlich entschließen könnte; denn ob ich gleich dies Alles in meiner Seele so klar einsah, so konnte ich deswegen doch allen Geiz, alle Lust- und Ehrsucht nicht ablegen.

Das Eine sah ich, daß, so lange mein Gemüth mit diesen Gedanken beschäftigt war, so lange verabscheute es jene Neigungen und dachte ernstlich an eine andre Lebensweise; welches mir denn zum großen Trost gereichte. Denn ich sah, mein Uebel sei wenigstens doch noch nicht so groß, daß kein Mittel dagegen wäre. Und obgleich anfangs diese hellen Zwischenräume selten waren und nur kurze Zeit dauerten, so kamen sie doch, nachdem ich das wahre Gute mehr und mehr erkennen lernte, nicht nur öfter, sondern dauerten auch länger; zumal da ich einsah, daß der Erwerb des Geldes oder die Lust- und Ehrbegierde nur so lang Hindernisse blieben, so lange man sie nicht als Mittel, sondern als Zwecke suchte. Sucht man sie als Mittel, so haben sie Maß und hindern nicht, sondern fördern vielmehr, zu dem Zweck zu gelangen, deshalb man sie sucht.

Hier will ich nur kurz sagen, was ich durchs wahre Gute verstehe, und zugleich was das höchste Gut sei. Dies recht zu fassen, merke man, daß gut und böse nur beziehungsweise gesagt werden, so daß eine und dieselbe Sache gut und übel heißen kann in verschiedener Rücksicht; so auch vollkommen und unvollkommen. Denn seiner Natur nach kann nichts vollkommen oder unvollkommen genannt werden, vornehmlich weil wir wissen, daß Alles, was geschieht, nach einer ewigen Ordnung und nach gewissen Naturgesetzen geschehe. Da aber der schwache Mensch diese Ordnung mit seinen Gedanken nicht erreicht und sich dabei doch eine menschliche Natur denkt, die viel fester als die seinige sei, ja kein Hinderniß sieht, warum er eine solche Natur nicht erlangen könnte: so wird er angereizt, Mittel zu suchen, die ihn zu dieser Vollkommenheit führen. Alles, was ein Mittel sein kann, dahin zu gelangen, heißt ihm ein wahres Gut; das höchste Gut aber ist, dahin zu gelangen, daß er mit andern Individuen wo möglich einer solchen Natur genieße. Was dies für eine Natur sei, werden wir an seinem Ort sehen: sie sei nämlich Erkenntniß der Vereinigung, die mein Innerstes (mens) mit der ganzen Natur hat. Dies ist also der Zweck, nach welchem ich[24] strebe, eine solche Natur zu erlangen, und daß Viele sie mit mir erlangen mögen; d.i. zu meiner Glückseligkeit gehört es auch, Fleiß anzuwenden, daß viele Andre das einsehen, was ich einsehe, daß ihr Verstand und ihre Begierde völlig mit der meinigen übereinstimme. Und damit dies werde, so ist nöthig, daß sie von der Natur so viel verstehen, als nöthig ist, eine solche Natur zu erlangen; ferner, eine Gesellschaft zu stiften, in welcher eine große Anzahl auf die leichteste Art mit Sicherheit dahin gelangen möge. Weiter muß man auf die Moralphilosophie und auf die Lehre von der Erziehung der Kinder Fleiß anwenden, und weil die Gesundheit kein kleines Mittel ist, diesen Zweck zu erreichen, muß die ganze Medicin in Ordnung gebracht werden. Weil auch durch die Kunst viel Schweres leicht gemacht, viele Zeit erspart und viele Bequemlichkeit fürs Leben erworben wird, so ist auch die Mechanik auf keine Weise zu verachten. Vor allen Dingen aber ist eine Art auszusinnen, wie der Verstand geheilt und (wiefern es anfangsweise geschehen kann) gereinigt werde, damit er die Sache ohne Irrthum und aufs Beste einsehen lerne. Jedermann sieht hieraus, daß ich alle Dinge auf einen Zweck, auf ein Ziel richten wolle, nämlich daß man zur ebengenannten höchsten Vollkommenheit des Menschen gelange. Was also in den Wissenschaften nichts zu unserm Zweck beiträgt, muß als unnütz verworfen, kurz, alle unsre Gedanken und Handlungen zu diesem Zweck gerichtet werden. Weil aber, wenn wir den Verstand auf den rechten Weg zu lenken suchen, wir auch leben müssen, so müssen wir auch einige Lebensregeln als gut annehmen. Diese nämlich:

1. Nach der Denkart des gemeinen Mannes zu reden und Alles zu bewirken, was uns kein Hinderniß in Weg legt, unser Ziel zu erreichen. Denn von ihm können wir großen Vortheil erwarten, wenn wir, so weit es sein kann, uns seiner Denkart bequemen. Er wird auch auf diese Weise der Wahrheit selbst ein geneigtes Ohr schenken.

2. Des Vergnügens nur sofern zu genießen, als es zur Gesundheit gehört.

3. Geld und jedes Andre nur soweit zu suchen, als es zum Leben, zur Gesundheit und zur Sitte der Landes gehört, inwiefern diese unserm Zweck nicht widerstrebt.«


* * *


Träume ich oder habe ich gelesen? Ich glaubte einen frechen Atheisten zu finden, und finde beinah einen metaphysisch-moralischen Schwärmer. Welch ein Ideal des menschlichen Bestrebens,[25] der Wissenschaft, der Naturkenntniß ist in seiner Seele! und er geht zu ihm mit so überdachtem, mühsam-schwerem Schritt und Stil, als Manche zur Umänderung ihres Lebens nicht ins Kloster wandern. Offenbar ist der Aufsatz aus den Jahren des Mannes, da er vom Judenthum Abschied nahm und seine philosophische Lebensart wählte.10 Er hat diese fortgesetzt bis ans Ende seines Lebens; was mag er in ihr erreicht haben? – Aber siehe, da kommt Theophron.

THEOPHRON. So fleißig? Philolaus, Sie haben die Witterung nicht ganz wahr gelobt; die abgeregneten Gewitterwolken haben uns ein Kälte verursacht, die man nach Ihrem Gleichniß nicht vermuthen sollte.

PHILOLAUS. Lassen Sie mein Gleichniß und geben mir diesen Band mit! ich sehe, ich habe mich an Spinoza geirrt. Was, meinen Sie, soll ich zuerst lesen?

THEOPHRON. Seine »Ethik«. Das Uebrige ist Fragment, und der »Theologisch-politische Tractat« war ein frühere Probe-Zeitschrift. Gefällt's Ihnen, so nehmen Sie einige Regeln mit auf die Reise.

1. Ehe Sie den Spinoza lesen, muß Ihnen Descartes, wenn auch nur als Wörterbuch, bekannt sein. In ihm sehen Sie den Ursprung der Worte und Formeln, also auch manch sonderbaren harten Formeln des Spinoza. Nehmen Sie hiezu Descartes' Hauptschriften oder einen seiner Schüler,11 unter welchen insonderheit Clauberg die Sätze des Cartesianismus klar und ordentlich vorträgt; Sie werden solche hier in einem Bande beisammen finden. Sodann gehen Sie an des Descartes Principia philosophiae von Spinoza selbst, die er für einen seiner Lehrlinge aufgesetzt hat;12 Sie treffen in ihnen den Uebergang zu seinem eignen System an. Einen Baum muß man nicht etwa nur in seinem Gipfel und Zweigen, sondern in Stamm und Aesten, ja wo möglich den Veranlassungen seines Entstehens und Wachsthums[26] nach, in Wurzel, Boden und Klima kennen lernen, gesetzt, daß es auch ein Giftbaum wäre. Denn läsen Sie diesen Philosophen des vorigen Jahrhunderts nach der Sprache unsrer Philosophie, so müßte er Ihnen freilich, wie er Vielen noch jetzt erscheint, ein Ungeheuer dünken.

2. Geben sie sorgfältig auf seine geometrische Methode Acht und lassen Sich von ihr nicht nur nicht berücken, sondern bemerken auch, wo diese ihn berückte. Descartes verleitete ihn zu ihr; und er wagte den kühnen Versuch, sie auch der Form nach auf alle, selbst die verflochtensten moralischen Materien anzuwenden. Eben dieser Versuch hätte seine geometrischen Nachfolger in der Metaphysik warnen mögen.

3. Bleiben Sie nie bei Spinoza stehen, sondern rufen bei jedem seiner paradoxen Sätze die ältere und neuere Philosophie zu Hilfe, wie diese etwa solche oder eine ähnliche Behauptung weggeräumt oder leichter, besser, unanstößiger, glücklicher ausgedrückt habe. Sogleich wird Ihnen dann ins Auge fallen, warum dieser Autor sie nicht also, vielleicht nicht so glücklich habe ausdrücken können; mithin werden Sie den Ursprung seines Wortirrthums und den Fort- oder Rückgang der Wahrheit selbst gewahr werden. Nehmen Sie in dieser Absicht seine wenigen Briefe als Erläuterungen zu Hilfe;13 sie klären in Manchen viel auf, und an dem Rande meines Exemplars werden Sie von einer alten Hand geschriebene Nachweisungen auf die »Ethik« und in der »Ethik« auf sie finden. Dienten diese Briefe zu keinem andern Zweck, so zeigten sie, wie ganz es dem Spinoza mit seiner Philosophie ein Ernst gewesen, wie sehr er sich von ihr überzeugt hatte, und wie glücklich er sich in derselben fühlte. Wenn Sie dies Geschäft geendet haben und Ihnen daran etwas liegt, wollen wir über Ihre Zweifel oder über seine Irrthümer ein Weiteres reden.

PHILOLAUS. Ich will Ihrem Rath folgen, ob er gleich viel fordert.

THEOPHRON. Eben fällt mir eine Ode in die Hand: An Gott, von einem Atheisten.

PHILOLAUS. Von Spinoza?

THEOPHRON. Der war kein Dichter; von einem Atheisten, der des Atheismus wegen verbrannt ward.

PHILOLAUS. Und eine Ode auf Gott machte? ich will sie lesen.
[27]


Deo.14

Dei supremo percita flamine

Mentem voluntas exstimulat meam;

Hinc per negatum tentat alta

Daedaliis iter ire ceris;


Audetque coeli non memorabile

Metari Numen principio carens

Et fine, definire Musae

Exiguo breviore gyro.


Origo rerum et terminus omnium,

Origo, fons et principium sui

Suique finis terminusque

Principio sine terminoque.
[28]

Ubique totus, tempore in omnibus

Omni quiescens ipse Deus locis,

Partes in omnes distributus

Integer usque , manens ubique.


Nec comprehensum ullis regionibus

Ullisve clausum limitibus loca

Tenent, sed omnis liber omne

Diditus15 in spatium vagatur.


Illius alta est velle potentia,

Opus voluntas invariabilis;

Et magnus absque quantitate

Atque bonus sine qualitate.


Quod dicit, uno tempore perficit;

Mirere, fiat vox vel opus prius?

Cum dixit, en cum voce cuncta

Sunt universa simul creata.
[29]

Cuncta intuetur, perspicit omnia,

Atque in una solus (solus est omnia),

Quae sunt, fuerunt et futura

Praevidet ipse perennitate.


Atque ipse plenus cuncta replet Sui

Et semper idem sustinet omnia

Et fert movetque amplectiturque

Atque supercilio gubernat.


Te, Te oro, tandem respice me bonus,

Tibique nodo junge adamantino:

Id namque solum unumque et omne

Reddere quod potis est beatos.


Quicunque junxit Te sibi et altius

Uni adhaerescit, continet omnia

Teque omnibus circumfluentem

Divitiis nihilique egentem.


Tu, cum necesse est, nullibi deficis

Ultroque praebes omnibus omnia

Ipsumque Te, qui sis futurus;

Omnibus omnia subministras.
[30]

Laboriosis Tu vigor inclitus,

Tu portus alto navifragantibus,

Tu fons perennis perstrepentes

Qui latices salientis ardent


Tu summa nostris pectoribus quies,

Tranquillitasque et pax placidissima,

Tu mensus16 es rerum modusque,

Tu species et amata forma.


Tu meta, pondus, Tu numerus, decor

Tuque ordo, Tu pax atque honor atque amor

Cunctis, salusque et vita et aucta

Nectare et ambrosia voluptas.


Tu verus altae fons sapientiae,

Tu vera lux, Tu lex venerabilis,

Tu certa spes, Tuque aeviterne

Et ratio et via veritasque;
[31]

Decus jubarque et lumen amabile

Et lumen almum atque inviolabile;

Tu summa summarum, quid ultra?

Maximus, optimus, unus, idem.[32]

1

Oeuvres de Bayle, T. IV. p. 169. 170.

2

Tractatus Theologico – Politicus, continens dissertationes aliquot, quibus ostenditur, libertatem philosophandi non tantum salva pietate et reipublicae pace posse concendi, sed eamdem nisi cum pace reipublicae ipsaque pietate tolli non posse. Hamburg. (Amstelod.) 1670.

3

Er ist seitdem übersetzt erschienen (Gera 1787), aber ohne die Anmerkungen, die hier gewünscht werden. Seine »Ethik« ist mit Anmerkungen begleitet.

4

Leben des Spinoza von Joh. Colerus. Frankf. 1733.

5

In Heidenreich's »Natur und Gott« (B. I. Leipzig 1789) ist der erste Theil des Aufsatzes La vie et l'esprit de Mr. Benoit de Spinoza übersetzt. Obgleich enthusiastisch geschrieben, stimmt dies Elogium eines Freunde und Bekannten dennoch mit Coler's Lebensbeschreibung zusammen und ist merkwürdig.

6

S. Uriel. Acostae Exemplar humanae vitae, hinter Limborch's Amica collatione cum Judaeo, Basil. 1740.

7

Ein Vorgänger eben des Colerus, der sein Leben geschrieben.

8

B. d. S. Opera posthuma (Hagae Com.) 1677.

9

Tractatus de intellectus emendatione in Opp. posthum. Spinozae, p. 356.

10

Die Vorrede der Herausgeber sagt dies und bittet um Verzeihung, »wenn in dem Aufsatz Manches dunkel und roh erscheine; der Aufsatz sei nicht vollendet.« A. d. H.

11

Descartes, Opp. Philosoph. Amstel. 1685. Regii Philos. natural. Amstel. 1654. Raaei Clav. philos. nat. Lugd. 1654. Clauberg's Phys., Metaphys. etc. »In Cartesio displicet, sagt Leibniz, audacia et fastus nimius conjunctus cum styli obscuritate, confusione, maledicentia. Longe magis mihi probatur Claubergius, discipulus ejus, planus, perspicuus, brevis, methodicus.« Leibnit. Otium Hannoveran., ed. Fellero., p. 181.

12

Amstel. 1663. »Quem ego cuidam juveni, quem meas opiniones aperte docere nolebam, antehac dictaveram«, sagt Spinoza in seinem neunten Briefe, S. 423.

13

Opp. posth., p. 395 seq.

14

Da diese Ode seitdem in Kosegarten's »Poesien« (B. I. S. 35) wohlklingend übersetzt ist, so stehe sie hier, diese Uebersetzung:

Gott

Durchwebt von Dessen Odem, der ewig lebt,

Von Dessen Gluth gezündet, der nie erlischt,

Entbrennt die Seele, schwingt den Fittig,

Steiget in nimmer erflogne Höhen,

Und strebet mühsam aufwärts zum Throne Deß,

Den keine Zunge nannte, kein Hymnus sang,

Den keine Schranke grenzt noch enget,

Nicht des Beginns, noch des Endens Schranke.

Er ist der Wesen Urgrund und ist ihr Ziel,

Sein eigner ew'ger Urgrund, sein eignes Ziel,

Beginnt, begrenzt, beschränkt sich selber,

Grenzenlos zwar und beginn- und endlos.

Ganz, ungetheilt, untheilbar und unverrückt,

Erfüllt sein Wesen jeglichen Atomus

Des ungemessnen Raums und jeden

Stiebenden Tropfen des Zeitenstromes.

Ihn deckenhohe Tempelgewölbe nicht,

Ihn fassen nicht die Himmel, die Erden nicht;

Frei, unumhüllet, ungefesselt

Waltet und herrscht er im großen Alle.

Sein Will' ist That. Wer steuert dem Mächtigen?

Wer hemmt den Unrückrufbaren? Groß ist er

Und gut, nicht mit der Meßkunst Größen,

Nicht mit der Güte der Sittenlehren.

Stracks, flugs, im Hui geschiehet, was er gebeut.

Das Weltall schlief des eisernen Nichtseins Schlaf;

Er rief: Erwache? Schnell erwachend

Rafft' es sich auf und erstaunt' und kniete.

Sein alldurchdringend Auge durchschaut das All

Und hegt und trägt, bewahret und wärmet es.

Allmächtig herrscht sein Wink, allmächtig

Waltet des Schrecklichen hohe Brane.

Dich fleh' ich, Guter! lächel' auf mich herab!

Mit Demantketten binde mich fest an Dich!

Bei Dir, bei Dir ist volle Gnüge,

Einzig bei Dir, und bei keinem Andern!

Wohl Dem, der Dich ergreifet, an Dich sich hängt.

An Dich sich innig schmieget, Dich fest umflicht!

Dich habend, Vater, hat er Alles,

Alles, was sättigt, und was beseligt.

Du, Du entzeuchst Dich Keinem, der Dein bedarf,

Freiwillig schenkst Du Jeglichem Jegliches;

Dich selbst, der war und ist und sein wird,

Ewiger, schenkst Du dem frommen Fleher!

Du bist dem Müherliegenden Nerv und Mark,

Und bist dem Klippenscheiternden Bucht und Port,

Und bist der durstgeborstnen Lippe

Lechzender Wanderer Quellenkühle.

Du bist der Arbeitseligen süße Ruh',

Bist unsern Busen Frieden und Freudigkeit

Bist jeder Schönheit Urgebilde,

Jeglicher Trefflichkeit ew'ge Urform.

Bist Zahl und Maß und Zirkel und Harmonie

Und Pracht und Ordnung, Hoheit und Majestät,

Bist unsre Wonne, unsre Wollust,

Unsre Ambrosia, unser Nektar.

O Du, der Wahrheit Richtscheit, des Rechtes Norm,

Des Guten Bleischnur, heiliges Urgesetz,

Du, unsre Hoffnung, unsre Weisheit,

Leuchtende Fackel des irren Geistes!

Glanz, Lichtstrahl, Würde, Hoheit, wie sing' ich Dich!

Licht, Liebe, Leben, Labsal, wie feir' ich Dich!

Der Summen Summe! All das Allen!

Einziger, Ewiger, Größter, Bester!

15

Divisus, a didere pro dividere.

16

Mensor s. mensura.

Quelle:
Herders Werke. Berlin [o.J.], S. 13-33.
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