Die Irren

Variation


Ein Königreich. Provinzen roter Wiesen.

Ein Wärter, eine Peitsche, eine Kette.

So klappern wir in Nessel, Dorn und Klette

Durch wilder Himmel schreckliche Devisen,


Die uns bedrohn mit den gezackten Flammen,

Mit großer Hieroglyphen roter Schrift.

Und unsrer Schlangenadern blaues Gift

Zieht krampfhaft sich in unserm Kopf zusammen.


Daß tausend Disteln unsere Beine schlagen,

Daß manchen Regenwürmchens Köpfchen knackt,

Zu unseres wilden Volks Bacchanten-Takt,

Wir hören's ferne nur in unsere Klagen.


Ein gläsern leichter Fuß ward uns gegeben,

Und Scharlachflügel wächst aus unserm Rücken.

So tanzen wir zum Krach der Scherben-Stücken,

Durch lauter Unrat feierlich zu schweben.


Welch göttlich schönes Spiel. Ein Meer von Feuer.

Der ganze Himmel brennt. Wir sind allein,

Halbgötter wir. Und unser haarig Bein

Springt nackt auf altem Steine im Gemäuer.


Verfallner Ort, versunken tief im Schutte,

Wo wie ein Königshaupt der Ginster schwankt,

Des goldner Arm nach unsern Knöcheln langt

Und lüstern fährt herauf in unsrer Kutte.
[262]

Wo eine alte Weide, dürr und stumm,

Mit Talismanen ihren Bauch behängt,

Vor unsrer Göttlichkeit die Arme senkt,

Und uns beschielt mit Augen, weiß und krumm.


Aus ihrem Loch springt eine alte Maus,

Verrückt wie wir. Ein goldner Schnabel blinkt

Am Himmelsrand. Ein leises Lied erklingt,

Ein Schwan zieht in das Feuer uns voraus.


O süßer Sterbeton, den wir geschlürft.

Breitschwingig flattert er im goldnen West,

Wo hoher Pappeln zitterndes Geäst

Auf unsere Stirnen Gitterschatten wirft.


Die Sonne sinkt auf dunkelroter Bahn,

In einer Wetterwolke klemmt sie fest.

Macht schnell und reißt aus seinem schwarzen Nest

Mit Zangen aus den goldnen Wolken-Zahn.


Hui. Er ist fort. Der dunkle Himmel sinkt

Voll Zorn herab in einen schwarzen Teich,

Des Abgrund droht, mit fahlen Wolken bleich,

Unheimlich, eine Nacht, die Unheil bringt.


Und eine Leiche wohnt im tiefen Grund,

Um die ein Aale-Volk geschmeidig hüpft.

Uralt, ein Fisch, der ein zum Ohre schlüpft

Und wieder ausfährt aus dem offnen Mund.
[263]

Ein Unke ruft. Ein blauer Wiedehopf

Meckert wie eine Ziege in dem Sumpf. –

Was werden eure Stirnen klein und dumpf,

Was sträubt sich euch der graue Narren-Schopf?


Ihr wollet Fürsten sein? Ich sehe Bestien nur,

Die weit die Nacht erschrecken mit Gebell.

Was flieht ihr mich? Die Arme flattern schnell,

Wie Gänsen an dem Messer der Tortur.


Ich bin allein im stummen Wetterland,

Ich, der Jerusalem vom Kreuz geschaut,

Jesus dereinst. Der nun den Brotranft kaut,

Den er im Staub verlorner Winkel fand.
[264]

Quelle:
Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Band 1, Hamburg, München 1960 ff., S. 259-260,262-265.
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