An die Poesie

Zu dir meine Flucht,

An deinen lindernden Busen,

In deine weich

Umschlingenden Arme

Rett ich mein Herz,

Das prosawunde

Qualenzuckende Herz,

O du meine tröstende Mutter,

Sorgen verkosendes Lieb,

O du meine Muse!

Ruhe lächelt dein Auge,

Dein mildes, hehres Auge,

In meine dunklen Qualen und Sorgen,

Das glänzende tiefe,

Das mit olympischer Klarheit

Tränkte den greisen Homer,

Mit tragischer Milde umgoß

Die bruderbestattende,

Still ins Todesbrautgemach

Steigende Jungfrau ...

Muse, du wölbtest

Den blauen Himmel von Hellas

Auf Marmor Plastik,

Mit blitzzerrissener,

Düsterer Wolken hehrer Phantastik

Bangtest du

Dem Jehovah heiligen Lande.

Wilde Schwüle ließest du zittern

Über dem üppigen Traubengehänge,

Drin der schwellende Busen der Braut

Wogte unter den Küssen

Des ebenholz-lockigen Freundes.

Ein Leichenfeld

Sieht der begeisterte Seher,[33]

Ein Wirbelwind

Dreht die Gebeine zusammen,

Sie fügen sich ein,

Dasteht

Ein totenköpfiges Heer.

Sehnen schießen und Fleisch sproßt,

Haut spannt sich herum.

Ein Gotteshauch:

Mit den Waffen

Rasselt das Heer. –

Dem glutenhagern

Jacopone di Todi

Erschienst du

Hoher düsterer Gestalt,

Drücktest kohlenbrennenden Kuß

Auf seine schroffe steinerne Stirn,

Draus die düstern Flammenrhythmen

Des dies irae glühten,

Das heiße Angstgebet,

Das Flammenflehen:

Recordare, Jesu pie,

Quod sum causa tuae viae,

Ne me perdas illa die!


O, entsende auch mich!

Laß mich nicht stehn

Im Alltagsgrau,

Und Neidesblicke

Werfen auf die Erkorenen,

Gedrückt durch niedere Prosa,

Gequält von den Stichen

Des kleinlichen Lebens,

Der Philister Umgebung,

Philisterhaft

Die Pfennige zu rechnen gezwungen.[34]

Nein Muse, so grausam

Kannst du nicht sein,

Mich hocken nicht lassen

Auf dumpfem Bureau,

Angewidert von Allem,

Verhöhnt von Allen!

Mit selbstzerfressendem Grimm,

Mit selbstvergiftendem Hohn

Mich selbst regalierend,

Was bleibt mir als Wahnsinn?

Halbdichter zu sein!

O diesen Jammerstand

Hab' ihn verdient ich,

Weil mit allen

Fasern mein Wesen

Sich drängt zu dir?


Berauscht hat mich

Dein wonniger Atem,

Vollende dein Werk.

Drücke den Kuß der Weihe

Mir auf die Stirn,

Erschließe sie –

Und ich gehöre ganz dir.

O schleudere mich nicht

Zurück in die Prosa!!


Quelle:
Peter Hille: Gesammelte Werke. Berlin 1916, S. 33-35.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Weiße, Christian Felix

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon