[67] Meine Seele, laß die Flügel
Näher zu der Sonnen gehn
Und zerreiß den trägen Zügel,
Der dich heißt gefangen stehn!
Sei der Welt nicht allzuhold;
Denn ihr Grund ist Glas, nicht Gold.
Schaue nur das Spiel der Erden
Mit geheilten Augen an.
Was wird endlich dieses werden,
Das uns so bethören kann?
Der aus Nichts gemachte Schein
Wird in Nichts verkehret sein.
[68]
Laß den Purpur aus den Händen,
Den dein Irrthum scheinbar macht;
Laß kein falsches Licht dich blenden;
Meide jener Blumen Pracht,
Die der Garten in sich hegt,
Der für Früchte Dornen trägt.
Lerne zeitig dieses hassen,
Was du ewig hassen mußt!
Kannst du denn die Welt nicht lassen? –
Ach, was ist doch ihre Lust?
Heute Gras und morgen Heu,
Heute Blumen, morgen Spreu!
Das Aegypten unsrer Herzen,
Das jetzt Ehr' und Lust verspricht,
Macht uns morgen Angst und Schmerzen,
Aendert sich und kennt uns nicht.
Suche nun ein fester Land;
Denn hier wohnt nur Unbestand.
[69]
Auf, o Seele, zu den Sternen,
Zu der Sonne wahrer Ruh'!
Schau gesäubert dort von fernen
Dieser Welt Gebrechen zu,
Die in ihren Banden lacht,
Auf ihr Elend nur bedacht!
Dort empfähst du Trost für Thränen,
Grund für Firniß, Lust für Noth,
Gold für Staub, Genuß für Sehnen,
Ja, das Leben für den Tod,
Und für Kränze dieser Zeit
Kronen wahrer Ewigkeit.