32. Zykel

[153] Der Hof ließ jetzt (er konnte vor Schmerz nicht sprechen) ausschreiben, daß der tote Nestor mit Tode abgegangen. Ich setze hier den Jammer der Stadt samt der Freude derselben über die neue Perspektive beiseite. Der Landphysikus Sphex mußte[153] den Regenten – anstatt daß man uns Untertanen gleich Schnepfen und Grundeln mit dem ganzen Eingeweide und Gescheide auf die Tafel des Gewürms serviert – wie ein großes Tier ausweiden. Abends ruhte der Erblaßte auf seinem Paradebette aus – der Fürstenhut und der ganze elektrische Apparat des Throndonners lag ebenso ruhig und kalt neben ihm auf einem Taburett –; er hatte die gehörigen Kerzen und Leichenwächter um sich. Diese Toten-Schweizer – der Klang frappiert mich, und ich sehe jetzt die Freiheit auf dem Paradebette der Alpen liegen und die Schweizer wachen – bestehen bekanntlich aus zwei Regierungsräten, zwei Kammerräten und so fort. Der eine Kammerrat war der Hauptmann Roquairol. Es kann hier nur einschaltungsweise berührt werden, wie dieser Jüngling, der vom Kamerale fast nicht mehr verstand als ein Kammerrat im **hischen, doch zu einem Rate in Kriegssachen darin aufstieg – nämlich wider seinen Willen durch den alten Froulay, der (an sich eben kein sentimentalischer Herr) dem alten Fürsten immer die Jugenderinnerungen auffrischte und auffärbte, weil man in dieser weichen Laune von ihm erbetteln konnte, was man wollte. Wie häßlich und niedrig! So kann ein armer Fürst kein Lächeln, keine Träne, kein freudiges Bild haben, woraus nicht irgendein Hofprezist, ders sieht, einen Türgriff arbeitet, sich etwas zu öffnen, oder einen Degengriff zum Verwunden; keinen Laut kann er von sich geben, den nicht ein Weidmann und Wildrufdreher zum Mundstück und Wildruf verbrauche. –

Julienne besuchte abends um 9 Uhr das einzige Herz, das am Hofe wie ihres und für ihres schlug, ihre gute Liane. Diese bot gern ihrer anfangenden Migräne die Stirn und suchte nur fremde Schmerzen zu fühlen und zu stillen. Die Freundinnen, die vor fremden Augen nur Scherze und voreinander nur einen weichen schwärmerischen Ernst entfalteten, versanken immer tiefer in diesen vor der religiösen strengen Ministerin, die nie an Juliennen so viel Seele fand als in dieser sanft nachweinenden Stunde, wie Levkojen zu duften anfangen, wenn sie begossen werden. Nicht der kämpfende Schmerz, sondern der fliehende verschönert die Gestalt; daher verklärt der Tote seine, weil die[154] Qualen erkaltet sind. Die Mädchen standen schwärmerisch miteinander am Fenster, das zunehmende Mondenlicht ihrer Phantasie wurde durch das äußere voll; sie machten den Nonnen-Plan, auf lebenslang beisammen zu leben und zusammenzuziehen. Es kam ihnen in dieser stillen Rührung oft mit Erschrecken vor, als wehe der klingende Flug abgeschiedener Seelen vorüber (bloß ein paar Fliegen hatten auf der Harfe der Ministerin mit Füßen und Flügeln die Töne gegriffen) –; und Julienne dachte recht schmerzlich an ihren toten Vater in Lilar.

Endlich bat sie die Seelenschwester, mit ihr heute nach Lilar zu fahren und das letzte und tiefste Weh einer Waise zu teilen und zu mildern. Sie tat es willig; aber der Ministerin war das Ja mühsam abzuringen. Ich sehe die sanften Gestalten aus der langen Umarmung im Wagen in das Trauerzimmer in Lilar treten, die kleinere Julienne mit zuckenden Augen und wechselnder Farbe, Liane von Migräne und Trauer blässer und milder und über jene durch ihre schon vom zwölften Jahre geschenkte Länge42 erhoben.

Wie überirdische Wesen strahlten beide die an allen Ecken brennende Seele Roquairols an. Ein einziger Tränentropfe konnte in diesen Kalzinierofen Sieden und Verwüstung bringen. Schon diesen ganzen Abend blickte er den Greis mit furchtsamen Schaudern über das kindische Ende dieses gewichnen Geistes an, der sonst so feurig gewesen als seiner jetzt; und je länger er hinsah, desto dickere Rauchwolken schwammen vom offnen Krater des Grabes in das grünende Leben herein, und er hörte darin donnern, und er sah darin eine Eisenfaust dunkel glühen, die nach unserm Herzen greift.

Unter diesen grimmigen Träumen, die jeden innern Schmutzflecken beleuchteten und die hart ihm droheten, auch an seinem Vulkane werde nichts fruchtbar sein als einst die – Asche, traten die traurigen Mädchen herein, die unterwegs nur über die erkaltete Gestalt, und jetzt noch heftiger über die verschönerte weinten; denn die Hand des Todes hatt' aus ihr das Linienblatt der[155] letzten Jahre, das vortretende Kinn, die Feuermäler der Leidenschaften und so viele mit Runzeln unterstrichene Qualen weggelöscht und gleichsam auf die Hülle den Widerschein des frischen stillen Morgenlichts gemalt, das jetzt den entkleideten Geist umgab. Aber auf Julienne machte ein schwarzes Taftpflaster auf dem Augenknochen, das noch von einem Stoße daraufgeblieben war, dieses Zeichen der Wunden, einen heftigern Eindruck als alle Zeichen der Heilung; sie bemerkte nur die Tränen, aber nicht die Worte Lianens: »O wie ruht er so schön!« – »Aber warum ruht er?« (sagte ihr Bruder mit jener aus dem Innersten murmelnden Stimme, die sie von seiner Liebhaber-Bühne her kannte; und faßte ihre Hand erschüttert, weil er und sie einander innig liebten, und seine Lava brach nun durch die dünne Rinde) – »darum, weil das Herz aus seiner Brust geschnitten ist, weil darin das Feuerrad der Entzückung, das Schöpfrad der Tränen nicht mehr geht.«

Diese tyrannische Erinnerung an die Leichenöffnung wirkte fürchterlich auf die kranke Liane, und sie mußte die Augen von der zugedeckten Brust abwenden, weil der Schmerz mit einem Lungenkrampfe den Atem sperrte; und doch fuhr der wilde, andere wie sich verheerende Mensch, der vorher neben der steifen Leichengarde geschwiegen hatte, im doppelten Zertrümmern fort: »Fühlst du, wie sich dieser Fangeball des Schicksals, dieses Ixionsrad der Wünsche so schmerzlich in uns bewegt? – nur die Brust ohne Herz wird ruhig.« –

Auf einmal schauete Liane länger und starrer auf die Leiche eine eiskalte Schneide, wie von der Todessichel, drückte sich durch das warme Gehirn – die Trauerkerzen brannten (schien es ihr) trüber und trüber – dann sah sie im Winkel des Zimmers eine schwarze Wolke spielen und aufwachsen – dann fing die Wolke zu fliegen an und stürzte voll herausquellender Nacht über ihre Augen – dann schlug die dicke Nacht tiefe Wurzeln in den wunden Augen, und die erschrockne Seele konnte nur sagen: »Ach Bruder, ich bin blind.«

Nur der harte Mann, aber kein Weib wird es fassen, daß in Roguairols entsetzlichen Schmerz einige ästhetische Freude über das mörderische Trauerspiel eindrang. Julienne schied vom Toten[156] und von dem alten Schmerze und warf sich mit dem neuen an ihren Hals und klagte: »O meine Liane, meine Liane! siehst du noch nicht? – Sieh mich doch an!« – Der zerrissene und zerreißende Bruder führte die Schwester, der nur einzelne Tropfen als kaltes hartes Wasser auf die blassen Wangen schlugen, mit der scharfen Frage fort: »Schwirret kein Würgengel mit roten Fittichen durch deine Nacht, wirft er keine gelbe Nattern auf dein Herz und keine Schwertfische in deine Nervengewebe, damit sie sich darin verstricken und an den Wunden die Sägezähne wetzen? – Mir ist wohl in meiner Pein, solche Disteln kratzen uns, nach guten Moralisten, auf43 und bereiten uns zu. – – Du jammervolle Blinde, was sagst du, hab' ich dich wieder recht elend gemacht?« – »Wahnsinniger,« sagte Julienne, »lassen Sie nach, Sie bringen sie um.« – »O was kann er dafür;« (sagte Liane) »die Migräne machte mir es schon vorhin neblicht.« –

Der Abschied der Freundinnen wurde in mehr als einer Finsternis genommen, und darin will ich ihn mit allen seinen Qualen lassen. – Dann bat Liane ihr Mädchen, es der Mutter so kurz vor dem Schlafe zu verschweigen, da es sich vielleicht in der Nacht noch gebe. Aber umsonst; die Ministerin war es gewohnt, ihren Tag an der Brust und der Lippe ihrer Tochter zu schließen. Nun trat diese geleitet herein und suchte das Mutterherz irrig seitwärts, und dem sanftern Weinen konnte sie in dieser geliebten Nähe nicht mehr wehren: da wurde ja alles verraten und alles gestanden. – Die Mutter ließ erst den Doktor rufen, eh' sie mit feuchten Augen und mit leisen Armen an der angedrückten Tochter den Bericht anhörte. Sphex kam, prüfte die Augen und den Puls und machte nichts daraus als ein Nerven-Falliment.

Der Minister, der überall im Hause Leithunde mit feinen Ohren hatte, kam, unterrichtet, herein und machte in Sphexens Beisein außer weiten Schritten nichts als die kleine Note: »Voyez Madame, comme votre le Cain joue son rôle à merveille44.« –[157]

Sobald Sphex hinaus war, ließ Froulay einige Billionenpfünder und Wachteln (dreipfündige Handgranaten) auf die Gattin los. »Das sind«, notierte er, »die Folgen Ihrer visionären Erziehung« (freilich schlug seine eigne am Sohne auch nicht sonderlich an) – »Warum ließen Sie die kranke Närrin gehen?« (Er hätt' es selber aus höfischen Rücksichten noch lieber erlaubt; aber Männer tadeln gern die Fehltritte, die man ihnen – ersparte; überhaupt setzen sie wie Köchinnen das Messer lieber an Hühner mit weißem Gefieder als an die mit dunkelm.) – »Vous aimez, ce me semble, à anticiper le sort de cette Rêveuse un peu avant qu'il soit decidé du nôtre«45 (Ihr Schweigen machte ihn immer bitterer) »Oh! ce sied si bien à votre art cosmétique que de rendre aveugle et de l'être, le dieu de l'amour s'y prête de modèle46.« Von dieser schreienden Härte ergriffen – besonders da bloß der Minister wider die mütterlichen Wünsche eben diese kosmetische Erziehung Lianens für seine politischen gewählt und befohlen hatte – mußte die Mutter das nasse Auge an der Tochter verbergen und trocknen. Die Ehemänner – und die neuesten Literatoren halten sich für Feuersteine, deren Lichtgeben man nach ihren scharfen Ecken berechnet. Unsere Voreltern schrieben einem Diamant-Gehenke das Vermögen, Liebe unter Ehegatten anzufachen, zu – auch find' ich in der Tat noch an Juwelen diese Kraft –; nur lässet dieser zum Kiesel gehörige Stein nach den Ehepakten so kalt und hart, als er selber ist. Wahrscheinlich war Froulays Eheband ein solches edelsteinernes.

Allein die Frau sagte nur: »Lieber Minister, lassen wir das; aber schonen Sie die Kranke!« – »Voilà précisement ce qui fût votre afaire47«, sagt' er hohnlachend. Vergeblich redete Liane ihn rührend-irrig von der falschen Weltgegend an und sprach für ihren Bruder – welches ewige, zu viel beweisende Defensorat[158] aller Leute ihr einziger Fehler war –; vergeblich, denn sein Mitleiden mit einer Gepeinigten bestand in nichts als im Grimme gegen die Peiniger, und seine Liebe gegen Liane zeigte sich nur im Hassen derselben: »Schweig, Närrin! Aber Monsieur le Cain soll mir nicht ins Haus, Madame, bis auf weitre Ordre!« – Ich sage zum alten Ehe-Bramarbas aus Schonung weiter nichts als: Geh zum Teufel, wenigstens zu Bett! –

42

Diese frühzeitige Vollendung des Wuchses hab' ich an mehreren ausgezeichneten Weibern bemerkt, gleich als sollten diese Psychen Schmetterlingen gleichen, die nicht wachsen nach der Entpuppung.

43

Mit Disteln wird das Tuch gerauhet, d.h. aufgekratzt, um es besser zu scheren.

44

»Sehen Sie, wie vortrefflich Ihr Le Cain (ein berühmter Schauspieler) seine (Mord-)Rolle spielt.«

45

»Sie wollen, wie es scheint, das Schicksal dieser Seherin noch eher entscheiden, als das unsrige entschieden ist.« Er meint hier die Ehescheidung, die zwischen beiden nur durch den wechselseitigen Wunsch, Lianen zu behalten, verschoben wurde.

46

»So gehört sichs für Ihre Verschönerungskunst, sowohl blind zu machen als zu sein, der Liebesgott ist das Modell dazu.«

47

»Das wäre eben vorher Ihre Sache gewesen.«

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 153-159.
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