12. Zykel

[75] Unser Held war aus den kindischen Jahren, wo Herkules die Schlangen erdrückte, in die gottestischfähigen getreten, wo er sie erwärmte unter der Weste, um sie in spätern wieder zu köpfen. Jubelnd schlugen draußen – sie flogen nebeneinander – sein neuer und sein alter Adam die Flügel auf unter einem blauen Himmel, der gar keinen Ankergrund hatte. Was kümmerte ihn die Mahlzeit? Alle Kinder tragen vor und unter einer Abreise keinen Magen unter ihren Flügeln, wie auch den Schmetterlingen jener einschrumpft, wenn ihnen diese aufgehen. Die oftgedachte Sennenhütte oder das Schießhäuslein war nichts Geringers als ein Schießhaus mit einer Wachtstube für eine abgedankte Soldatenfrau, mit einem Schießstand im untern Stock und mit einem Sommerstübchen im obern, worin der alte Wehrfritz in jedem Sommer eine Landpartie und ein Vogelschießen haben wollte, es aber nie hatte, weil der arme Mann sich in der Arbeitsstube, wie andere im Tafelzimmer, entmastete und abtakelte. Denn obgleich der Staat seine Diener wie Hunde zum zehntenmal wieder herlockt, um sie bloß zum eilften wieder abzuprügeln; und ob Wehrfritz gleich an jedem Landtage alle Staatsgeschäfte und Verdienste verschwur – weil ein redlicher Mann wie er am Staatskörper überall so viel wie an denen antiken Statuen zu ergänzen findet, wovon nur noch die steinerne Draperie geblieben –: so kannt' er doch kein weicheres Faul- und Lotterbette zum Ausruhen als eine noch höhere Ruderbank, und er strebte jetzt vor allen Dingen, Landschaftsdirektor zu werden.[75]

Die deutschen Höfe werden das Ihrige dabei denken, daß ich ihnen die folgende Knaben-Idylle anbiete. Mein schwarzäugiger Schäfer lief gegen die Bergfestung der Senne Sturm und erhielt von der Soldatenfrau die Torschlüssel zum weißgrünen Sommerkabinett. Beim Himmel! als alle östliche und westliche Fensterladen und Fenster aufgestoßen waren und der Wind von Osten blätternd durch die Akten und kühlend durch den Stuben- Schwaden strich – und als außen Himmel und Erde um die Fenster herumstanden und nickend hereinsahen – als Albano unter dem Fenster nach Osten das tiefe breite Tal mit dem steinigen springenden Bache beschauete, auf welchem alle Glimmerscheiben, die die Sonne wie Steinchen schief anwarf, auf der Bergseite hinausfuhren – als er vor dem westlichen Fenster hinter Hügeln und Wäldchen den Schwibbogen des Himmels, den Berg vor der Lindenstadt sah, der wie ein krummgeworfner Riese auf der Erde schlief – als er sich von einem Fenster zum andern setzte und sagte: »Das ist sehr prächtig!«: so wurden seine Lustbarkeiten im Stübchen am Ende so glänzend, daß er hinausging, um sie draußen noch höher zu treiben.

Die Göttin des Friedens schien hier ihre Kirche und ihre Kirchstühle zu haben. – Die rüstige Soldatenfrau legte in einem hochstaudigen Gärtlein Früherbsen und warf zuweilen einen Erdenkloß in den Kirschbaum unter die geflügelten Obstdiebe, und begoß wieder unverdrossen die neue Leinwand und den verpflanzten Salat, und lief doch willig zum kleinen zehnjährigen Mädchen, das, von Blattern erblindet, auf der Türschwelle strickte und nur bei gefallnen Maschen sie als Maschinengöttin berief. Albano stellte sich an den äußersten Balkon des sich lieblich-aufschließenden Tals, und jeder Windstoß blies in seinem Herzen die alte kindische Sehnsucht an, daß er möchte fliegen können. Ach, welche Wonne, so sich aufzureißen von dem zurückziehenden Erdenfußblock und sich frei und getragen in den weiten Äther zu werfen – und so im kühlen durchwehenden Luftbade auf- und niederplätschernd, mitten am Tage in die dämmernde Wolke zu fliegen und ungesehen neben der Lerche, die unter ihr schmettert, zu schweben – oder dem Adler nachzurauschen und[76] im Fliegen Städte nur wie figurierte Stufensammlungen, und lange Ströme nur wie graue, zwischen ein Paar Länder gezogne schlaffe Seile, und Wiesen und Hügel nur in kleine Farbenkörner und gefärbte Schatten eingekrochen zu sehen – und endlich auf eine Turmspitze herabzufallen und sich der brennenden Abendsonne gegenüberzustellen und dann aufzufliegen, wenn sie versunken ist, und noch einmal zu ihrem in der Gruft der Nacht hell und offen fortblickenden Auge niederzuschauen und endlich, wenn sich der Erdball darüberwirft, trunken in den Waldbrand aller roten Wolken hineinzuflattern! ...

Woher kommt es, daß diese körperlichen Flügel uns wie geistige heben? Woher hatte unser Albano diese unbezwingliche Sehnsucht nach Höhen, nach dem Weberschiffe des Schieferdeckers, nach Bergspitzen, nach dem Luftschiffe, gleichsam als wären diese die Bettaufhelfer vom tiefen Erdenlager? Ach du lieber Betrogener! Deine noch von der Puppenhaut bedeckte Seele vermengt noch den Umkreis des Auges mit dem Umkreise des Herzens und die äußere Erhebung mit der innern und steigt im physischen Himmel dem idealistischen nach! – Denn dieselbe Kraft, die vor großen Gedanken unser Haupt und unsern Körper erhebt und die Brusthöhle erweitert, richtet auch schon mit der dunkeln Sehnsucht nach Größe den Körper auf, und die Puppe schwillt von den Schwingen der Psyche, ja an demselben Bande, woran die Seele den Leib aufzieht, muß ja auch dieser jene heben können.

Wenigstens flog Albano zu Fuß den Berg hinab, um mit dem Bache fortzuwaten, der in die weißgrüne Birken-Holzung, sich abzukühlen, floß. Schon öfters hatt' ihn seine Robinsonaden-Sucht nach allen Strichen und Blättern der Windrose fortgeweht; und er ging gern mit einer unbekannten Straße ein hübsches Stück Weg, um zu sehen, welchen sie selber einschlage. Er lief am silbernen Ariadnens-Faden des Baches tief ins grüne Labyrinth und wollte durchaus unter die Hintertüre des langen Dickichts vor eine weite Perspektive gelangen – er gelangte nicht darunter – die Birken wurden bald lichter, bald düsterer, der Bach breiter – die Lerchen schienen draußen in hoher Ferne über[77] ihm zu singen – aber er bestand auf seinem Kopf. Die Extreme hatten für ihn von jeher magnetische Polarität – wie die Mitte nur Indifferenzpunkte –; so war ihm z.B. außer dem höchsten Stande des Barometers keiner so lieb als der tiefste, und der kürzeste Tag so willkommen als der längste, aber die Tage nach beiden fatal.

Endlich nach dem Fortschritte einiger Stunden in Zeit und Raum hört' er hinter den lichtern Birken und hinter einem stärkern Rauschen als des Baches seinen Namen von zwei weiblichen Stimmen öfters leise und lobend nennen. Jetzt galoppierte er, gleichgültig gegen das Wagen der Lunge und des Lebens, keuchend wieder zurück – sein Name wurde lange darnach wieder um ihn genannt, aber schreiend – seine heimliche Schutzheilige, die Kastellanin der Senne, tat seinetwegen diese Notschüsse unten am Berge.

Er kam hinauf, und die runde Tafel der Erde lag hell und sonderbar-erweichend um sein durstiges Auge. Wahrhaftig die weite Ferne samt der Müdigkeit mußte den Zugvogel hinter dem Sanggitter der Brust an seine fernen Länder und Zeiten erinnern und ihn damit wehmütig machen, als so die mit roten Dächern buntgefleckte Landschaft vor ihm ihre weißen leuchtenden Steine und Teiche wie Licht-Magnete und Sonnensplitter auslegte – als der lange graue Straßendamm nach Lindenstadt, deren Prospekte im Sommerstübchen hingen und wovon zwei Turmspitzen oben aus dem Gebirge keimten, vor ihm die fernen Wanderer hinauftrug in die für ihn geschlossene Stadt – und als ja alles nach Westen flog, die vorbeizischenden Tauben, die über die Saaten wogten, und die Wolkenschatten, die leicht über hohe Gärten wegliefen Ach das jüngste Herz hat die Wogen des ältesten, nur ohne das Senkblei, das ihre Tiefe misset! – – Das gelehrte Deutschland macht sich, merk' ich, seit mehrern Zykeln auf große Fata und Fatalitäten gefaßt, die diesem Sennentage meines Helden die nötige Würde geben; ich, der sie am ersten wissen müßte, weiß gegenwärtig noch von keinen. Aus der Kindheit – ach aus jedem Alter – bleiben unserm Herzen oft Tage unvergänglich, die jedes andere vergessen hätte; so ging dieser nie aus[78] Albanos seinem. Zuweilen wird ein kindlicher Tag auf einmal durch ein helleres Aufblicken des Bewußtseins verewigt; in Kindern, zumal solchen, wie Zesara ist, dreht sich das geistige Auge weit früher und schärfer nach der Welt innerhalb der Brust, als sie zeigen und wir denken.

Jetzt schlugs ein Uhr im Schloßturme. Der geliebte nahe Ton, der ihn an seine nahe Pflegemutter – und an das versagte Essen erinnerte – und der Anblick der kleinen Blinden, die schon ihren Holzzweig vom Brotbaum oder ihr dürres Renntiermoos in Händen hatte – und der Gedanke, daß doch heute der Geburtstag des Pflegevaters sei – und die unsägliche Liebe für seine gekränkte Mutter, der er oft plötzlich einsam an den Hals fiel – und sein von der Natur betauetes Herz machten, daß er zu weinen anfing. Aber der Trotzkopf ging darum nicht nach Hause; nur die Älplerin war ungeheißen fortgelaufen, um der suchenden Mutter den Flüchtling zu verraten.

Er wollte in dieser Mittagsstille der kleinen blinden Lea, auf deren Gesicht ein sanftes weiches Zugwerk durch die Punktation der Blattern leserlich durchlief, einige Worte oder doch den langen Stecken, womit sie die Tauben von den Erbsen und die Spatzen von den Kirschen treiben mußte, mitarbeitend abgewinnen; aber sie drückte schweigend den Arm fest auf die Augen, blöde vor dem vornehmen jungen Herrn. Endlich brachte die Frau das Gericht für den verlornen Sohn und von Rabetten noch dazu ein Riechfläschchen voll Dessert-Wein.

Albine von Wehrfritz gehörte unter die Weiber, die, ungleich den Staaten, nur ihr Versprechen halten, aber keine Drohung die den nürnbergischen Forstämtern gleichen, welche auf den kleinsten Waldfrevel eine Strafe von 100 Fl. setzen und in derselben Stunde sie auf 100 Kreuzer moderieren22 – die aber ihre Gesetze, wie Solon seine auf 100 Jahre, nach Verhältnis ihres kleinern Staats doch auf 100 Sekunden hinaus geben.[79]

22

An einen deutsch. Kammerpräsident. 1. B. Seite 296.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 75-80.
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