16. Zykel

[90] Jede Ehrensäule erhebt das Herz eines Mannes, den man daraufstellt, über den Brodem des Lebens, über die Hagelwolken der Drangsale, über den Frostnebel der Verdrießlichkeit und über die brennbare Luft des – Zorns. Ich will das Zauberblatt einer günstigen Rezension einem knirschenden Werwolfe vorhalten; – sofort steht er als ein leckendes Lamm mit quirlendem Schwänzchen vor mir; und könnte eine Frau ihrem hitzigen Schriftsteller jedesmal ein kritisches Trompeterstückchen auf Famas Trompete vorblasen, er würde einem Engel und sie jenem Bierfiedler gleich, der im Bärenfange den Saul von Petz durch Tanzstücke besänftigte.

Wehrfritz kam als ein neugeborner Seraph Albinen entgegen und erzählte die Ehre. Ja um die Explosionen seines Ätna ihr abzubitten, sagte er nicht, wie sonst: nolo episcopari, er sagte nicht, eine unersteigliche Bergkette von Arbeiten setze sich jetzt um ihn fest – sondern statt dieses verlegnen Zurückziehens der Hand vor dem ausschüttenden Fruchthorne des Glücks, statt dieser jungfräulichen Blödigkeit des Entzückens, die Gattinnen gemeiner ist, legt' er die Herzhaftigkeit einer Witwe an den Tag und sagte Albinen, ihre Wünsche des heutigen Morgens wären schon zu Gaben geworden – und fragte, wo denn der versprochene[90] Abendschmaus und die Leute und der Magister und der Tanzmeister, den jener gar noch nicht gesehen hätte, und Rabette und alles steckte.

Aber Albine hatte dem Magister schon längst durch Albano die Einladung und das Verziehen aller Gewitter und des neuen Kommis Ankunft sagen lassen. Wehmeier aß eigentlich mit dem größten Widerwillen bei einem Edelmanne, bloß weil er wie ein speisender Akteur des Tisches mit Reden, savoir vivre, Aufpassen, Halten aller Gliedmaßen und Spedieren aller Eßwaren so viel zu tun hatte, daß er aus Mangel an Muße kleine Dinge – z.B. Essiggurken, Kastanien, Krebsschwänze – bloß im ganzen und ohne Geschmack verschluckte, so daß er nachher das Hartfutter wie einen verschlungnen Jonas oft drei Tage in der Weidtasche seines Magens herumtragen mußte. Allein diesesmal zog er sich gern zum Essen an, weil er auf seinen pädagogischen Nebenmann neugierig und ungehalten war, und das aus Angst, der neue Mitpächter gebe vielleicht die herrliche Wintersaat in Albans besäetem Lande für seine eigne Sommersaat aus. Er schrieb seiner abbrevierten Lehrmethode alle Wunderkräfte seines Lehrlings, d.h. dem Boden aus Wasser den aromatischen Geist der Pflanze zu, die darin wuchs.23

Mit größerer nachsichtiger Liebe kam er, den halbierten Liebling eigenhändig führend, vor Rabettens Kabinett in einem saftgrünen Flaus mit dreiblättrigem Kragen an. – – »Herr von Falterle hier« (sagte bei seinem Eintritt Rabette, nicht aus Neckerei, sondern aus Unbesonnenheit) »meinten vorhin, Sie wärens, als der Hund hereinwollte.« – »Mein Herr,« (versetzte kalt und ernst der Paradeur von Falterle neben unserm Ackergaule)»der Hund kratzte an der Türe – aber sowohl bei dem Minister als in allen großen Häusern in Paris kratzet jedermann mit dem Fingernagel, wenn er bloß in ein Kabinett und in kein großes Zimmer will.« – –

Welcher herrliche malerische Abstand beider Amtsbrüder! Der Exerzitienmeister mit der bunten Flughaut oder Rückenschürze[91] eines gelben Sommerkleidchens, gleichsam mit den gelben Oberflügeln eines Buttervogels, dessen dunkle Unterflügel das Gilet (wenn ers aufknöpft) vorstellen; – Wehmeier aber im geräumigen saftgrünen Flause hängend, den ein Zeltschneider um ihn gespannt zu haben scheint, und mit Unterleib und Schenkeln in der schwarz-samtnen Halbtrauer der Kandidaten pulsierend, die sie anlegen, ehe sie sich zur ganzen verkohlen – Falterle hat sein Glatteis von Beinkleidern plattiert um die Beine gegossen, und jede Falte in diesen bricht sich in seinem Gesichte zu einer, als wäre dieses das Unterfutter von jenen; indes an den Schenkeln des Schachtelmagisters die Wendeltreppe seiner Wickel- Modesten24 aufläuft – jener in Brautschuhen, dieser in Pumpenstiefeln – jener schnalzt als eine weiche schleimige Goldschleie empor mit den Bauchfloßfedern des Jabots, mit den Seitenfloßfedern der Manschetten und mit den Schwanzfloßfedern des an drei Hermelin-Schwänzchen hängenden trinomischen Würzelchens oder Zöpfleins; der Magister sieht in seinem grünen Flause bloß wie der grüne Schnäpel (Weißfisch) oder die Kalquappe aus – herrlicher Abstich, wiederhol' ich! –

Der Schnäpel hätte die Schleie gern gefressen, als der Goldfisch mit dem rechten Arme Rabetten und mit dem linken Albano zum Essen vorausführte. Aber jetzt wurd' es viel ärger. Alban hatte mit seiner gewöhnlichen Heftigkeit die Serviette zuerst offen, die nun gleichsam das Antrittsprogramm und Dokimastikum von Falterles Lehrart wurde; »posément, Monsieur,« (sagt' er zum Novizen) »il est messéant de déplier la serviette avant que les autres ayent déplié les leurs.«25 Nach einigen Minuten gedachte Alban seine Suppe – es war eine à la Britannière mit Locken – kalt zu blasen: »Il est messéant, Monsieur,« (sagte der Exerzitienmeister) »de souffler sa soupe.«26. Der Schachtelmagister, der schon mit dem Gebläse seiner Brust zu einem Zugwinde für einen Löffel voll Locken angesetzt hatte, schnappte erschrocken mit einer Windstille ab.[92] Als nachher eine farschierte Weißkohlbombe wie eine Zentralsonne auf das Tischtuch niederfiel: schlang der Magister den brennenden Kalbfleisch-Farsch kühn hinein, wie ein Taschenspieler oder Vogel Strauß glimmende Kohlen, und atmete mehr ein- als auswärts.

Nach der Bombe kam ein Hecht au four herein, dem bekanntlich der Wegschnitt des Kopfes und Schwanzes und die Verschlossenheit des Bauchs die Gestalt eines Rehziemers schenken. Als Alban seinen alten Lehrer fragte, was es wäre, versetzte solcher: »Ein delikater Rehziemer.« – »Pardonnez, Monsieur« (sagte der Gegenzüngler) – »c'est du brochet au four, mon cher comte – mais il est messéant de demander le nom de quelque mets qu'il soit – on feint de le savoir.«27

Es ist leicht zu zeigen, daß dieser Kernschuß aus einer Doppelbüchse dem Magister durch Mark und Bein durchfuhr; die Passions-Instrumente, die im weggeschnittenen Kopfe des Hechts au four wie in einer Gewehrkammer lagen, arbeiteten in seinem weiter. Wie die meisten Schullehrer glaubt' er so lange die feinste Lebensart zu haben, als er sie dozierte und die gröbste bekriegte – ebensolange schätzt' er sie ungemein, so wie den Putz –; wurd' er aber in beiden besiegt, so mußt' er sie von Herzen verachten. Es bracht' ihn wieder auf die Beine, daß er den Exerzitienmeister im stillen bei sich gegen beide Katos und die homerischen Heroen hielt, die nicht viel besser aßen wie Schweine, und daß er so den Wiener an einen Schandpfahl anband und ihn daran mit der einen Hand wacker drasch, indes er mit der andern über ihm die Schandglocke läutete. Ja er stellte sich, um den Amtsbruder klein zu machen, auf einen fernen Irrstern und sah herunter auf die Bombe und auf den Hecht au four und mußte droben auf seinem Planeten sehr herablachen, als er den gelbseidnen Ladenhüter der Natur mit dem Wrack von Gehirn nicht größer befand als einen Kleisteraal. Dann dauerte ihn der verlaßne Zögling, und er fiel wieder herunter und schwur unterweges, aus ihm jeden Tag so viel auszujäten, als jener einharke.[93]

Wir werden es noch bald genug erfahren, wie Albans Nerven auf dieser Drechselbank unter den Schlichthobeln zuckten. Den Direktor labte dieses pädagogische Schneiden und Brillantieren eines so großen Demants unbeschreiblich, wiewohl der Schnitt (nach Jefferies) allen Demanten die halbe Schwere nimmt, und wiewohl er selber noch die ganze hatte und mehrere Karats als Facetten. Wehrfritz konnte nie eher rein vergeben – worauf er jetzt hinarbeitete, weil er dem Kleinen den Österleinschen Flügel mitgebracht –, als bis er wenigstens mit einem Worte eine kurze Marter angetan; er teilte also – blind gegen Albanos verhülltes blutiges Büßen – den Gästen mit, wie strenge der Minister seine Kinder erziehe, wie sie z.B. für unwillkürliches Husten und Lachen an der Tafel, gleich preußischen Kavalleristen, welche stürzen oder im Winde den Hut verlieren, Strafen bekommen und wie sie freilich so alt wären wie Albano, aber völlig so gesittet wie Erwachsene. Beim Minister hatt' er heute umgekehrt mit den Kenntnissen des Pflegesohns geprunkt; aber manche Eltern erbauen in jedem fremden Zimmer Rauchopferaltäre für dasselbe Kind, das sie im eignen wie Wein und Bienen schwefeln.

Der Henker hol' es überhaupt, daß sie, wie Landesväter, gerade dann verdoppelte Forderungen machen, wenn die Kinder unmäßige befriedigt haben, so daß diese durch opera supererogationis von majorennen Lernstunden die Spielstunden mehrverwirken als erringen. Hält man es nicht großen Philosophen, z.B. Malebranche, und großen Feldherren, z.B. Scipio, zugute, daß sie nach den größten Eroberungen, die sie im Reiche der Wahrheiten oder in einem geographischen gemacht, sich in die Kinderstube setzten und da wahre Kindereien trieben, um den Bogen, womit sie so viele Lügen und Menschen zu Boden gelegt, sanft zurückzuspannen? Und warum soll dieses Gleichnis, womit der heilige Johannes sich verteidigte, wenn er sich eine Spielstunde mit seinem zahmen Rebhuhne erlaubte, nicht Kinder entschuldigen, daß sie auch Kinder werden, wenn sie vorher den noch dünnen Bogen zu krumm angezogen haben?

Aber nun weiter! Der alte Wehrfritz referierte Rabetten ganz freundlich, »wie er heute die Pupille des Don Zesara, die herrliche[94] Gräfin de Romeiro, gesehen, wahrhaftig 12 Jahre alt, aber von einer Conduite, wie nur eine Hofdame habe; und der Herr Ritter erlebe an seiner Mündel mehr Freude als sonst.« Diese harten klirrenden Worte ritzten, wie an einem Wasserscheuen, die offnen Nerven des ehrgeizigen Knaben, da für ihn der Ritter bisher das Lebensziel, der ewige Wunsch und der frère terrible war, womit man ihn bezwang; – aber er saß still ohne Zeichen da und erstickte das schreiende Herz. Wehrfritz kannte dieses stumme Verbeißen; gleichwohl handelte er so, als hab' ihn Albano nicht verstanden.

Nun fing auch der Wiener an, in alle Ecken und Nischen des ministerialischen Vatikans Leuchtkugeln zu werfen, bloß um seine Tanz- und Musikschüler darin und sich selber günstig zu beleuchten. Kann nicht die Tochter des Ministers, kaum zehn Jahre alt, alle neue Sprachen und die Harmonika, die Albano noch nicht einmal gehöret, und schon vierhändige Sonaten von Kotzeluch und singt wie die Nachtigall schon in unbelaubten Ästen, und zwar Opernauszüge, die ihre zarte Nachtigallenbrust aushöhlen, daher er fortgemußt? – Ja kann der Bruder nicht noch weit mehr und hat alle Lesebibliotheken ausgelesen, besonders die Theaterstücke, die er noch dazu auf Liebhaberbühnen auch spielt? Und wird er nicht gerade in dieser Stunde im heutigen bal masqué seine Sache recht gut machen, wenn er anders da den Gegenstand antrifft, der ihn begeistert? – Wehmeier tat unrecht, daß er unserm Juwelenkolibri Falterle gegenübersaß als eine Ohreule oder Vogelspinne, die bereit ist, den Kolibri jede Minute zu rupfen und zu fressen. Wahrlich Falterle sagte nichts aus Bosheit, er konnte niemand verachten und hassen, weil seine geistigen Augen in seinem aufgeschwollenen Ich so tief saßen, daß er damit gar nicht über das geschwollene Ich herausschauen konnte; er verletzte keine Seele und umflog die Leute nur wie ein stiller Schmetterling, nicht wie eine stechende sumsende Bremse, und sog kein Blut, sondern Honig (d.h. ein kleines Lob).

»Sollte sich wohl, Herr v. Falterle,« (sagte Wehrfritz, der alsdann, sobald er nur diesen kalten Wetterstrahl auf Albano heruntergetan hatte, diesen nicht mehr fliehend und kalt anschielen[95] wollte) »der junge Minister zuweilen auf eine Vogelstange setzen wie unser Albano da?« – Das war zu viel für dich gequältes Kind! »Nein!« sagte Albano ehern und mit der Freundlichkeit eines Leichnams, welche Nachsterben bedeutet, und verließ mit einer optischen Wolke schweifender Farben den unter seinen stummen Zuckungen knackenden Sessel und ging langsam mit eingeklemmten Fingern hinaus.

Der arme junge Mensch hatte heute nach der anscheinenden Vergebung seines adamitischen Falles und nach dem Anblicke des geschmückten neuen Lehrers, auf den er sich schon so lange gefreuet und dessen graviertes glänzendes Gehäuse gerade auf ein Kind imponierend wirkte, die letzte Puppenhaut seines Innern abgeworfen und sich viel vorgesetzt. Irgendeine Hand riß vor einer Stunde seinen innern Menschen aus der engen schläfrigen Wiege der Kindheit auf – er sprang auf einmal aus dem Wärmkorbe – er warf Fallhut und Flügelkleid weit weg – er sah die weite toga virilis dort hängen und fuhr in sie hinein und sagte: kann ich denn nicht auch ein Jüngling sein?

Ach du Lieber, der Mensch, besonders der rosenwangige, hält betrogen so leicht Bereuen für Bessern, Entschlüsse für Taten, Blüten für Früchte, wie am nackten Zweige des Feigenbaums scheinbare Früchte sprießen, die nur die fleischigen Hüllen der Blüten sind!

Und nun, indes alle Nerven und Wurzeln seiner Seele nackt an der harten Luft bloßlagen – und bei so schönen frischen Trieben, wurd' er jetzt so oft beschämend zertreten. In seiner Seele glühte die Ehre – durch die künftigen Jahre wollte sie wie durch eine weiße Kolonnade von Ehrensäulen gehen – schon ein bloßer Alumnus aus der Stadt war seiner ruhm- und wissens-durstigen Seele ein klassischer Autor – und sollt' ers erdulden, daß ihn bei dem Ritter der Direktor verklagte und der Wiener verzeichnete? – Harte Tränen wurden wie Funken aus der stolzen verletzten Seele geschlagen, und den Kometenkern seiner innern Welt zertrieb die Glut in einen schwülen Nebel. Kurz er beschloß, in der Nacht nach Pestitz zu rennen – vor seinen Vater zu stürzen, ihm alles zu melden – und dann wieder nach Hause zu gehen, ohne[96] ein Wort davon zu sagen. Am Ende des Dorfs fand er einen eiligen Nachtboten, den er nach dem Pestitzer Wege befragte und der sich wunderte über den kleinen Pilger ohne Hut. –

Man sehe mit mir vorher nach dem Reste der Tischgenossenschaft. Eben dieser Bote überbrachte dem Wiener eine böse Neuigkeit, die den so lange gelobten Ministers-Sohn betraf, der Roquairol hieß.

Die obengedachte Pupille des Ritters, die kleine Gräfin von Romeiro, war sehr schön; Kalte hießen sie einen Engel und Warme eine Göttin. Roquairol hatte keine belgische Venen, worin wie im Saturn alle Feuchtigkeiten als feste gefrorne Körper liegen, sondern afrikanische Arterien, worin wie im Merkur geschmolzene Metalle umlaufen. Als die Gräfin bei seiner Schwester war, versucht' er, mit der Keckheit vornehmer Knaben, sein mit einem Geäder von Zündstricken gefülltes Herz als einen guten Brander auf ihres zuzutreiben; aber sie stellte die Schwester als Feuermauer vor sich. Zum Unglück ging sie zufällig als Werthers Lotte gekleidet in die heutige Redoute, und die Pracht ihrer despotischen Reize wurde von lauter dunkel-glühenden Augen hinter Larven verschlungen und umblitzt; er nahm seine innere und äußere ab, drang an sie und forderte mit einiger Eile – weil sie abzureisen drohte – und mit einiger Zuversicht – auf dem Liebhabertheater errungen – und mit pantomimischer Heftigkeit – womit er auf diesem immer die schönsten Nachtmusiken der klatschenden Hände gewonnen – nichts vor der Hand als Gegenliebe. Werthers Lotte kehrte ihm stolz den prangenden Rücken voll Locken, er lief außer sich nach Hause, nahm Werthers Anzug und Pistole und kam wieder. Dann trat er mit einem physiognomischen Orkan des Gesichts vor sie hin und sagte – das Gewehr vorzeigend –, er mache sich hier auf dem Saale tot, falls sie ihn verstoße. Sie sah ihn ein wenig zu vornehm an und fragte, was er wolle. Aber Werther – halb trunken von Lottens Reizen, von Werthers Leiden und von Punsch – drückte nach dem fünften oder sechsten Nein (an öffentliches Agieren schon gewöhnt) vor der ganzen Maskerade das Schießgewehr auf sich ab, lädierte aber glücklicherweise nur das linke Ohrläppchen –[97] so daß nichts mehr hineinzuhängen ist – und streifte den Seitenkopf. Sie entfloh plötzlich und reisete sogleich ab, und er fiel blutend darnieder und wurde heimgetragen. – –

Diese Geschichte blies viele Lampen an Falterles Ehrenpforte aus – und an Wehmeiers seiner an –; aber sie setzte auf einmal Albinen in Angst über den ebenso wilden Tollkopf Albano. Sie fragte nach ihm in der Domestikenstube; und der Bote half ihr auf die Spur durch den Knaben ohne Hut. Sie eilte selber in ihrem gewöhnlichen Übermaße der Angst durch das Dorf hinaus. Ein guter Genius – der Hofhund Melak – war da der Musculus Antagonista und Schlagbaum des Flüchtlings geworden. Melak wollte nämlich mit; und Alban wollte einen dem Schloßhofe so bedienten und öfter als der Nachtwächter darin abrufenden Schirmvogt und Küstenbewahrer wieder heim haben. Melak war in seinen Sachen fest; er verlangte Gründe, nämlich nachgeworfene Prügel und Steine – allein der weinende Knabe, dessen glühende Hände die kalte Schnauze des gutwilligen Viehes erfrischte, konnte ihm kein böses Wort geben, sondern er drehte bloß den wedelnden Hund um und sagte leise: »Fort!« – Aber Melaken waren bloß laute Dekrete etwas; er kehrte immer wieder um; und in diesen Inversionen – während welchen in Albanos ohnehin immer auf dem Brockengebirge stehenden Geist, der im Nebel Riesenformen ziehend wachsen sah, seine Tränen und jedes unverdiente Wort tiefer einbrannten – fand ihn die unschuldige Mutter.

»Albano,« sagte sie freundlich-verstellt, »in der kalten Nachtluft bist du?« – Von diesem Nachgehen und Anreden der allein beleidigten Seele wurde seine volle, der eine Ergießung, es sei durch Tränen oder Galle, nötig war, so sehr ergriffen, daß er mit einem gichterischen Reißen des überspannten Herzens an ihren Hals aufsprang und sich daran aufgelöst und weinend hing. Er konnte ihren Fragen seinen harten Entschluß nicht gestehen, sondern drückte sich bloß stärker an ihr Herz. – Jetzt kam besorgt auch der bereuende Direktor nach, den die kindliche Stellung umschmolz, und sagte: »Närrischer Teufel, hab' ich es denn so böse gemeint?« und nahm zurückführend die kleine Hand.[98] Wahrscheinlich war Albanos Zürnen durch die ergoßne Liebe erschöpft und durch den versöhnten Ehrgeiz befriedigt; folgsam und sogar – was sonderbar scheint – mit größerer Liebe gegen Wehrfritz als gegen Albine ging er mit ihnen zurück und weinte unterwegs bloß aus zarter Bewegung.

Als er ins Zimmer trat, war sein Angesicht wie verklärt, obwohl ein wenig geschwollen, die Tränen hatten den Trotz verschwemmt und alle sanfte Schönheitslinien seines Herzens auf sein Gesicht gezogen, wie etwa der Regen die Himmelsblume, die in der Sonne nicht erscheint, in durchsichtigen zitternden Fäden zeigt. Er stellte sich aufmerkend an den Vater und behielt den ganzen Abend dessen Hand; und Albine genoß in der doppelten Liebe ein doppeltes Glück; und sogar auf den Gesichtern der Bedienten lagen zerstreute Stücke von dem dritten Nebenregenbogen des häuslichen Friedens, dem Bundeszeichen der verlaufenen Wassersnot.

– Wahrlich, ich hab' oft den Wunsch getan – und nachher ein Gemälde daraus gemacht –, ich möchte dabeistehen können bei allen Aussöhnungen in der Welt, weil uns keine Liebe so tief bewegt als die wiederkehrende. Es müßte Unsterbliche rühren, wenn sie die beladnen, vom Schicksal und von der Schuld oft so weit auseinandergehaltnen Menschen sähen, wie sie, gleich der Valisnerie28, sich vom sumpfigen Boden abreißen und aufsteigen in ein schöneres Element und wie sie nun in der freiern Höhe den Zwischenraum ihrer Herzen überwinden und zusammenkommen. – Aber es muß auch Unsterbliche schmerzen, wenn sie uns unter dem schweren Gewitter des Lebens gegeneinander auf dem Schlachtfelde der Feindschaft ausgerückt erblicken, unter doppelten Schlägen und so tödlich getroffen vom fernen Schicksal und von der nahen Hand, die uns verbinden sollte! –[99]

23

Denn Boyle fand in seinen Versuchen, daß Ranunkeln, Münze etc., die er im Wasser großwachsen lassen, die gewöhnlichen aromatischen Kräfte entwickelten.

24

Modesten wollen einige statt der Beinkleider hören.

25

Gemach, es ist unschicklich, wenn man seine Serviette früher aufmacht als andre Leute.

26

Es ist unschicklich, wenn man auf seine Suppe bläset.

27

Um Verzeihung, es ist Hecht au four; aber es ist unschicklich, nach dem Namen einer Schüssel zu fragen – man tut, als wisse man ihn schon.

28

Die weibliche Valisnerie liegt zusammengerollt unten im Wasser, aus welchem sie mit der Blumenknospe aufsteht, um im Freien zu blühen; die männliche macht sich dann vom zu kurzen Stengel los und schwimmt mit ihrem trocknen Blütenstaube der erstern zu.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 90-100.
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