Vorrede

[von Johann Georg Sulzer]


Es ist eine alte und bekannte Anmerkung, daß die Dichter nicht durch Unterricht und Regeln gebildet werden, sondern ihren Beruf und ihre Fähigkeiten blos von der Natur erhalten. Wer diesen Beruf empfangen hat, der redet ohne Vorsatz und ohne Kunst die Sprache der Musen: aber der Mangel desselben wird durch keinen Unterricht, und durch keine Regeln ersetzt. Plato setzet den wahren Character eines Dichters darin, daß er seine Gesänge durch Begeisterung hervorbringe,[7] sich selbst unbewußt, was er singe. Die Harmonie und der Gang des Verses setzen nach seiner Meinung, den Dichter in den Enthusiasmus, der ihm die Gedanken und Bilder darbietet, welche er bey gesetztem Geiste vergeblich würde gesucht haben.1 Man darf sich deshalb nicht wundern, daß die fürtreflichsten Dichter älter sind, als die Regeln, und daß die feineste Critik keine vollkommenere Gesänge hervorgebracht hat, als die sind, welche vor der Kunst gewesen.

Das Beyspiel der Dichterin, von welcher wir hier einige auserlesene Lieder der Welt vorlegen, bestätiget die Wahrheit dieser Anmerkungen[8] auf die unzweifelhafteste Weise. Ohne Vorsatz, ohne Kunst und Unterricht sehen wir sie unter den besten Dichtern ihren Platz behaupten. Mit Bewunderung erfahren wir an ihr, wie die Natur durch die Begeisterung würket, und wie ohne diese kein Vorsatz und keine Bestrebung vermögend ist, dasjenige zu ersetzen, was ohne sie fehlt. Die Lieder, welche ihr am besten gelungen, sind alle in der Hitze der Einbildungskraft geschrieben, da hingegen die, welche sie aus Vorsatz und mit ruhiger Ueberlegung verfertiget, allemal das Kennzeichen des Zwanges und den Mangel der Muse nicht undeutlich bemerken lassen. Wenn die Dichterin in Gesellschaft, oder in[9] einsamen Stunden von irgend einem Gegenstand lebhaft gerührt wird, so wird ihr Geist plötzlich erhitzt; sie besitzt sich nicht mehr, jede Triebfeder der Seele wird rege, sie fühlt einen unwiderstehlichen Trieb zum Dichten, und schreibet das Lied, welches ihr die Muse eingiebt, mit bewundrungswürdiger Geschwindigkeit. Gleich einer Uhr, die ohne fernere Hülfe ihren richtigen Gang fortschreitet, so bald die Feder gespannt ist, singt sie, sich selbst unbewußt, wie die Gedanken und Bilder in ihr entstehen, so bald die Seele durch die erste Vorstellung in Würksamkeit gebracht worden. Auch die feinere Beobachtung des Plato, daß die Harmonie und der Gang[10] des Verses die Begeisterung unterhalten, finden wir durch das Beyspiel unsrer Dichterin bestätiget. So bald sie den Ton, wie sie es selbst nennt, und das Sylbenmaaß getroffen, so fließt das ganze Lied ohne Müh und ohne Bestrebung die Gedanken und Bilder zu finden. Die feineste Wendung der Materie und des Ausdrucks entstehen unter der Feder, als wenn sie ihr eingegeben würden.

Wie unzweifelhaft es sey, daß unsre Dichterin ihren Beruf allein von der Natur bekommen habe, erhellet am deutlichsten aus allen Umständen ihres Lebens. Denn darin finden wir nichts, das vermögend gewesen wäre, an statt des natürlichen Hangs einen[11] künstlichen Trieb zur Dichtkunst in ihr zu erregen, keinen einzigen Umstand, woraus wir begreifen könnten, daß gelernte Regeln bey ihr die Stelle des Genies vertreten. Sie ist in einem Stande gebohren, der zunächst an den niedrigsten gränzet, ihre Erziehung, die Beschäftigungen ihrer Kindheit und ersten Jugend, waren der Niedrigkeit ihrer Geburt angemessen; in ihren reiferen Jahren aber waren ihre Umstände so, daß ihr Geist nothwendig in den tiefsten Staub wäre niedergedruckt worden, wenn die Natur nicht weit stärker wäre, als alle Hindernisse, die ihr entgegen würken.

Sie ist im Jahr 1722. an der Gränze von Niederschlesien, zwischen Züllichau,[12] Schwiebus und Crossen an einem kleinen Orte gebohren. Dieser Ort ist eine Meyerey von wenig Häusern und wird der Hammer genennet. Unter sieben armseeligen Einwohnern dieses Orts, war ihr Vater der ansehnlichste, weil er der Brauer und Gastwirth des Orts war. In ihrem siebenden Jahr nahm, kurz vor ihres Vaters Tode, ihrer Großmutter Bruder, ein verständiger Greis, sie zu sich nach Pohlen, und lehrte sie lesen und schreiben. Dies ist der Oheim, dem sie das schöne Lied gesungen, welches sich in dieser Sammlung findet.2 In ihrem zehnten Jahre gingen die Mühseeligkeiten des Lebens an, die sie hernach, bis nahe an ihr[13] vierzigstes Jahr, in so grossen Uebermaaß empfunden hat. Sie wurde ihrer Mutter wieder zurück gegeben. Zuerst mußte sie Kindermagd ihres Halbbruders werden, und bald darauf wurde ihr die Besorgung und Verpflegung von drey Rindern, der ganzen Heerde ihrer Aeltern, aufgetragen. Kurz vorher zeigten sich die ersten Spuhren ihres natürlichen Hanges zur Dichtkunst dadurch, daß sie eine ungewöhnliche Lust zum Singen fühlte, und hundert geistliche Kirchenlieder auswendig wußte, die sie bey ihrer Arbeit und bey der Hütung ihrer kleinen Heerde sang. Dadurch entstund bey ihr die Begierde selbst ein Morgenlied zu verfertigen, von dem sie sich aber nichts mehr erinnert.[14]

In ihrem Hirtenleben fiel noch ein anderer Umstand vor, der ihrem natürlichen Genie sehr zu Hülfe kam. Sie wurde mit einem Hirtenknaben bekannt, der ihr, ob sie gleich durch einen kleinen Fluß mit ihren Heerden getrennet waren, einige Bücher zutrug. Der Robinson, die asiatische Banise, und die tausend und eine Nacht waren ihre Bibliothek, welche unsre junge Hirtin mit grosser Begierde gelesen. Dieses machte ihr ihren Hirtenstand angenehm.

Allein diese Glückseligkeit war von sehr kurzer Dauer; sie mußte bald darauf ihre kleine Heerde verlassen und zum zweytenmal Kinderwärterin werden. Unter diesen und andern mühsamen häuslichen Geschäften[15] einer Dienstmagd erreichte sie ihr siebenzehentes Jahr, in welchem sie die Laufbahn weit grösserer Mühseeligkeiten antrat. Ihre Mutter verheyrathete sie an einen Mann, dem sie alle Wolle, die er verarbeitete, zurechte machen mußte. Und da überdem alle andre häusliche Geschäfte einer Frauen allein auf ihr lagen, so hatte sie keine andere Musse ihrem Hang zu lesen und Lieder zu schreiben nachzugeben, als einige Stunden der Sonntage. Da schrieb sie die Lieder nieder, welche sie unter ihrer Arbeit ausgedacht hatte.

Nach einer neunjährigen Ehe ward sie dieses Bandes los, um ein viel härteres zu tragen; denn ihre Mutter führte sie nicht lange hernach einem zweyten Mann zu, und[16] zugleich in den allerkümmerlichsten und armseligsten Theil ihres Lebens. Was die unglücklichste Ehe und die bitterste Dürftigkeit schweres und niederschlagendes haben, mußte sie bey diesem zweyten Mann ertragen. Aber eben in diesen Umständen zeigte die Natur ihre Kräfte an dem Genie unsrer Dichterin. Ihr kamen einige Verse des bekannten Prediger Schönemanns zu Gesichte. Man weiß in Berlin, daß diesen Mann, nach einem heftigen hitzigen Fieber, von Zeit zu Zeit eine Art von Raserey angetreten, in welcher er immer in Versen gesprochen und geprediget. Ungeachtet die meisten Verse dieses seltsamen Mannes mehr das Kennzeichen einer übel erhitzten Phantasie,[17] als das Gepräge des himmlischen Feuers der Musen trugen, so fand doch unsere Dichterin in denen, die sie zu sehen bekommen, etwas, das ihr Genie ausserordentlich reitzte. Sie fühlte eine grössere Begierde, als jemals, ihrem Trieb zu folgen, aber es fehlte ihr an Zeit und Gelegenheit dazu.

Nach einigen Proben, die sie gemacht hatte, wurde sie von verschiedenen Bekannten, die sie zu Fraustadt in Pohlen, dem damaligen Ort ihres Aufenthalts hatte, ermuntert, fortzufahren. In einem sehr kurzen Aufsatz von ihren Lebensumständen, gedenket sie des Rector Rickerts, und seines Collegen Prüpers, des Burgermeister Greiffenhagen, des Doctor Neugebauers in[18] Fraustadt, der Prediger an der Kirche zu Lissa in Großpohlen, des Reichsgrafen von Röders, und des Hofprediger Döbels in Großglogau, als der ersten Beförderer und Gönner ihrer poetischen Arbeiten; und sie verlangte aus Dankbarkeit gegen diese Männer, daß ihrer hier Meldung geschähe. Aus eben diesem Grunde müssen wir erwähnen, daß der Postmeister Körber in Großlissa der erste gewesen, der etwas von der Feder unsrer Dichterin der Presse übergeben, und daß der berühmte Professor Meyer in Halle, den sie durch das Gerücht kannte, und dem sie aus Pohlen ein Lied zugeschickt hatte, das meiste beygetragen hat, sie zur Fortsetzung solcher Arbeiten aufzumuntern.[19]

Indessen waren diese Aeusserungen ihres Genies nur noch kleine Funken, des halb unterdruckten Feuers, welches die Musen in ihr angezündet hatten. Die Siege Friederichs gaben ihm eine Kraft, die alle Hindernisse seines vollen Ausbruchs verzehrte, und die es in vollen Flammen darstellte. Sie war im Jahr 1755 mit ihrem Mann und vier Kindern nach Groß-Glogau gezogen. Daselbst bekam sie den Zutritt zu einem Buchladen, wo sie verschiedene poetische und andere Schriften mit größter Begierde, wiewohl ohne Ordnung und bestimmte Absicht durchlas. Wie glücklich sie sich eine sehr schnelle Durchlesung der Bücher zu Nutze mache, und wie leichte[20] sie die besten Züge behalte, zeiget sich überall in ihren Gedichten. Man würde von ihr eine ziemlich starke Belesenheit vermuthen, wenn man nicht wüßte, daß sie nur wenige Bücher und sehr flüchtig durchgelesen.

Der im vorigen Jahr geendigte merkwürdige Krieg, und die grossen Thaten des Helden, der die Augen der ganzen Welt allein auf sich gezogen hat, vollendeten die Ausbildung des dichterischen Geistes dieser ausserordentlichen Frauen. Sie hatte nach der Schlacht bey Lowoschütz ihr erstes Sieges-Lied gesungen, und nicht lange hernach kamen ihr die Kriegeslieder des preußischen Grenadiers, einige Oden von [21] Ramler, nebst den Gesängen der Frau Unzerin zu Gesichte, die einen mächtigen Reiz auf sie hatten. Die Lieder, in denen sie hernach Friedrichs Siege besungen, sind Zeugen eines schon zur Reife gekommenen Dichter-Geistes.

Indessen lebte die Dichterin immer unter dem Druck des größten Elendes. Aber es gefiel dem Schicksal, sie endlich aus den beklagenswürdigen Umständen, unter denen gemeine Seelen zu versinken pflegen, heraus zu reissen. Der Baron von Cottwitz, ein Schlesischer Edelmann, der sich seit vielen Jahren durch liebenswürdige Eigenschaften bekannt gemacht hatte, kam im Jahr 1760, als er eben durch[22] Glogau nach Berlin reisen wollte, in ihre Bekanntschaft. Sein wohlthätiges Gemüth empfand Mitleiden über ihr Elend, er riß sie heraus, und führte sie mit sich nach Berlin. So bald sie in dieser Hauptstadt angekommen, und die Bekanntschaft mit verschiedenen Kennern und Liebhabern der Dichtkunst gemacht hatte, zeigte sich ihr Genie in seiner vollen Stärke. Sie wurd in der Stadt und am Hofe bewundert. Die meisten Lieder dieser Sammlung sind Arbeiten, die sie seit diesem, für sie so glücklichen Zeitpuncte, gesungen hat. Sie legen ihren Charakter und ihre letztere Begebenheiten so wohl an den Tag, daß wir für unnöthig halten, uns länger bey dem aufzuhalten,[23] was ihre Person betrift. Es bleibet uns demnach nur noch übrig, daß wir den Gönnern unsrer Dichterin, etwas von der Beschaffenheit der gegenwärtigen Sammlung auserlesener Gedichte sagen.

Es ist bekannt, in was für einer Absicht, einige Freunde der Dichterin unternommen haben, diese Sammlung herauszugeben. Man hat Ursache, sich zu freuen, daß man diesen Weg eingeschlagen, eine Person von solchen Talenten, wenigstens aus der äussersten Dürftigkeit heraus zu reissen. Es haben sich, wie das nachstehende Verzeichniß zeiget, eine Menge wohlthätiger Personen gefunden, die sich ein Vergnügen daraus gemacht haben, die vorgeschlagene[24] Mittel zu unterstützen. Die gute Absicht, die sowol die Urheber, als die Beförderer dieses Werks, gehabt haben, wird uns überheben, die geringe Anzahl der Bogen dieser Sammlung zu entschuldigen. Es weiß jedermann, daß man sich nicht anheischig gemacht hat, die Vorschüsse, durch das Gewicht des Papiers, oder die Menge der Blätter zu bezahlen. Hingegen gestehen wir gerne, daß wir wegen des langen Verzuges der Ausgabe Nachsicht nöthig haben. Verschiedene unvermeidliche Umstände sind an dieser Verzögerung Schuld.

Die Wahl der Stücke, die in diese Sammlung ge kommen, hat zwar ein bekannter Dichter, dessen richtiger Geschmack[25] aus seinen eigenen Werken hinlänglich bekannt ist, getroffen. Indessen fürchtet er sich doch, daß man ihm vorwerfen könnte, es seyen Stücke weggelassen worden, die vollkommener sind, als einige andere, denen man hier Platz gegeben. Er bittet also dieses zu seiner Entschuldigung anzunehmen, daß er genöthiget gewesen, einigen Gedichten einen Platz zu geben, den vielmehr zufällige Umstände, als ihr innerlicher Werth gefodert haben.

Fußnoten

1 Sehet das Gespräch des Plato Io genannt.


2 S. 92.
[26]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764.
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»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

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