An Brücknern

[58] Als er die Rolle Medons spielte


Den Erdgebohrnen allen

Ward ein bestimmtes Loos,

Nachdem es den Göttern gefallen,

Klein, mittelmäßig, oder groß,

Verschiedenen wurden Talente gegeben,

Hervorzuschimmern in der Welt,

Und wenn ihr Bau vom Staube zerfällt,

Noch in dem Tempel der Ehre zu leben.[59]

Als Brückner einst gebohren ward;

Da sprach der Musenvater:

Nehmt Töchter dies Knäbchen von feuriger Art

Und bildet es für das Theater.

Da neigete Terpsichore

Zuerst ihr Haupt – Da legte

Die Hand aufs Herz Melpomene,

Thaliens Busen regte

Sich pflegegierig empor.

Doch mit geflügelten Füßen

Kam einer der Götter den Musen zuvor.

Sie lächelten und ließen

Den künstelehrenden Merkur,

Das Knäbchen lehren und bewahren.

Sie ließen ihm aber den Zögeling nur

Bis zu den Jünglingsjahren,

Da ward er ganz der Ihrige, ganz

Erfüllet – Begeistert von ihnen

Erringt er sich einen unsterblichen Kranz,

Auf dieser Bühne, die unter den Bühnen[60]

Germaniens glänzt,

Wie Hesperus unter den Sternen.

Schon lange ward er mit Ehre bekränzt

Und strebet noch immer zu lernen.

Melpomene lehret noch immer ihm vor:

Noch immer trinket sein horchendes Ohr

Der Göttinn weise Gesetze,

Und sinnet vom Morgen bis Abend darauf,

Damit er nicht eines verletze,

Damit er nicht strauchle im rühmlichen Lauf.

Sagt, Kenner, was will er noch werden?

Bewegt er euch alle nicht schon

Durch Ausdruck seiner Gebehrden,

Durch seiner Stimme mächtigen Ton,

Durch seine gewaltigen Blicke,

Zum Trauren, oder zur lachenden Lust?

Wenn über ein grausam Geschicke

Aus Medons bestürmeter Brust

Die Klage bricht; und was er leide

Aus jeder Miene blickt;[61]

Dann fühlen wir alle vom hämischen Neide

Die Tugend und Unschuld gedrückt,

Und ächzen voll Kummer und Schmerzen,

Und wenn er den kriechenden Feinde vergiebt,

Und siegend die Rache des Weisen verübt,

Dann quellen aus fröhlichen Herzen

Die Thränen zum Auge, wir glühn,

Und lieben die Tugend, den Dichter und ihn.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Neue Gedichte, Mietau und Leipzig 1772, S. 58-62.
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Gedichte und Satiren

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