Sommernacht

[20] Es wallt das Korn weit in die Runde,

Und wie ein Meer dehnt es sich aus;

Doch liegt auf seinem stillen Grunde

Nicht Seegewürm noch andrer Graus;

Da träumen Blumen nur von Kränzen

Und trinken der Gestirne Schein.

O goldnes Meer, dein friedlich Glänzen

Saugt meine Seele gierig ein!


In meiner Heimat grünen Talen,

Da herrscht ein alter schöner Brauch:

Wann hell die Sommersterne strahlen,

Der Glühwurm schimmert durch den Strauch,

Dann geht ein Flüstern und ein Winken,

Das sich dem Ährenfelde naht,

Da geht ein nächtlich Silberblinken

Von Sicheln durch die goldne Saat.


Das sind die Bursche jung und wacker,

Die sammeln sich im Feld zuhauf

Und suchen den gereiften Acker

Der Witwe oder Waise auf,

Die keines Vaters, keiner Brüder

Und keines Knechtes Hilfe weiß –

Ihr schneiden sie den Segen nieder,

Die reinste Lust ziert ihren Fleiß.


Schon sind die Garben fest gebunden

Und rasch in einen Ring gebracht;

Wie lieblich flohn die kurzen Stunden,

Es war ein Spiel in kühler Nacht![21]

Nun wird geschwärmt und hell gesungen

Im Garbenkreis, bis Morgenluft

Die nimmermüden braunen Jungen

Zur eignen schweren Arbeit ruft.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 20-22.
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