Nachhall

[85] Sieh den Abendstern erblinken

Tief im Westen, schön und hell!

Lieblich ist und gut zu trinken

Dieser Nachtluft lauer Quell!


Komm heraus, du junges Leben!

Komm, so leis dein Fuß dich trägt!

Recht in Lieb und Traum zu schweben

War ich jetzund aufgelegt.


Und ich habe, dir zu Ehren,

Einen guten Freund gebracht;

Minnesang will der uns lehren

Durch die kurze Sommernacht.


Liebeslieder sollen schallen,

Die vor alten Zeiten schon[85]

Schönen Frauen wohlgefallen,

Und er weist uns ihren Ton!


Laß uns einmal rückwärts fliegen

In die Welt, so jugendfern!

Solcher Schwärmerei dich schmiegen,

Weiß ich, mochtest sonst du gern.


»Sie kommt nicht?« fragt mein Begleiter,

»Und schon wird es morgenrot!«

Wahr ist es! so sag ich weiter,

Denn sie ist, wie du, schon tot!


Armer Ritter, laß uns gehen,

Hurtig such dein kühles Haus,

Denn des Morgenwindes Wehen

Lacht uns große Kinder aus!

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 85-86.
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