Poetentod

[385] Der Herbstwind rauscht; der Dichter liegt im Sterben,

Die Blätterschatten fallen an der Wand;

An seinem Lager knien die zarten Erben,

Des Weibes Stirn ruht heiß auf seiner Hand.


Mit dunklem Purpurwein, darin ertrunken

Der letzten Sonne Strahl, netzt er den Mund;

Dann wieder rückwärts auf den Pfühl gesunken,

Tut er den letzten Willen also kund:


»Die ich aus luft'gen Klängen aufgerichtet,

Vorbei ist dieses Hauses Herrlichkeit;

Ich habe ausgelebt und ausgedichtet

Mein Tagewerk und meine Erdenzeit.
[385]

Das keck und sicher seine Welt regierte,

Es bricht mein Herz, mit ihm das Königshaus;

Der Hungerschlucker, der die Tafel zierte:

Der Ruhm, er flattert mit den Schwalben aus.


So löschet meines Herdes Weihrauchflamme

Und zündet wieder schlechte Kohlen an,

Wie's Sitte war bei meiner Väter Stamme,

Vor ich den Schritt auf dieses Rund getan!


Und was den Herd bescheidnen Schmuckes kränzte,

Was sich an alter Weisheit um ihn fand,

In Weihgefäßen auf Gesimsen glänzte,

Streut in den Wind, gebt in der Juden Hand:


Daß meines Sinnes unbekannter Erbe

Mit find'ger Hand, vielleicht im Schülerkleid,

Auf offnem Markte ahnungsvoll erwerbe

Die Heilkraft wider der Vernachtung Leid.


Werft jenen Wust verblichner Schrift ins Feuer,

Der Staub der Werkstatt mag zugrunde gehn!

Im Reich der Kunst, wo Raum und Licht so teuer,

Soll nicht der Schutt dem Werk im Wege stehn!


Dann laßt des Gartens Zierde niedermähen,

Weil unfruchtbar; die Lauben brechet ab!

Zwei junge Rosenbäumchen lasset stehen

Für mein und meiner lieben Frauen Grab!


Mein Lied mag auf des Volkes Wegen klingen,

Wo seine Banner von den Türmen wehn;

Doch ungekannt, mit mühsalschwerem Ringen

Wird meine Sippschaft dran vorübergehn!«
[386]

Noch überläuft sein Angesicht, das reine,

Mit einem Strahl das sinkende Gestirn;

So glüht' noch eben in dem Purpurscheine,

Nun starret kalt und weiß des Berges Firn.


Und wie durch Alpendämmerung das Rauschen

Von eines späten Adlers Schwingen webt,

Ist in der Todesstille zu erlauschen,

Wie eine Geisterschar von hinnen schwebt.


Sie ziehen aus, des Schweigenden Penaten,

In faltige Gewande tief verhüllt;

Sie gehn, die an der Wiege einst beraten,

Was als Geschick sein Leben hat erfüllt:


Voran, gesenkten Blicks, das Leid der Erde,

Verschlungen mit der Freude Traumgestalt,

Die Phantasie und endlich ihr Gefährte,

Der Witz, mit leerem Becher, still und kalt.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 385-387.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gesammelte Gedichte
Die Leute von Seldwyla / Gesammelte Gedichte: BD 3
Sieben Legenden und Gesammelte Gedichte

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon