Stutzenbart

[383] Herrlich in der Maienzeit

Blaut des Himmels Kläre –

Halt zum Opferdienst bereit

Nun die blanke Schere!


Durch das offne Fenster ziehn

Schon des Bartes Flocken

Schimmernd weiß; ach: hin ist hin!

Singt die Norn' am Rocken.


Welch ein winterlich Gespinst

Hat sie dir gesponnen!

Und da fliegt der Reingewinst

Deiner Lebenswonnen!


Aber sieh! wie feierlich

In die Höh sie schweben,

All die Flöcklein! Will zu sich

Sie der Äther heben?


Und am Ende sollst du gar

Noch ein Heil'ger werden,

Dessen Bart- und Lockenhaar

Man verehrt auf Erden?


Jetzt, mit Blüten untermischt,

Tanzen sie im Winde;

Doch was zwitschert, pfeift und zischt

Dort für ein Gesinde?


Fink und Schwalbe, Star und Spatz

– Wie das flirrt und flattert! –[384]

Haben bald den Silberschatz

Deines Haupts ergattert!


Fliegen mit dem teuren Gut

Heim nach allen Seiten,

Für die weichbeflaumte Brut

Schnöd das Nest zu breiten;


Und was würdig hat umwallt

Deine weisen Lippen,

Dient dem Haus- und Ehehalt

Leichter Vogelsippen!


Lächle denn durch Blüt und Blatt,

Schönster Frühlingsmorgen:

Darf ja, wer den Schaden hat,

Für den Spott nicht sorgen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 383-385.
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