In der Via mala

[240] Wie einst die Tochter Pharaos

Im grünen Schilf des Niles ging,

Des Auge hell, verwundrungsgroß,

Verliebt an ihren Augen hing,

Wie sie ihr Haupt, das goldumreifte,

Sehnsüchtig, leicht flutüber bog,

Um ihren Fuß das Wasser schweifte

Und silberne Ringe zog:


So seh ich dich, du träumrisch Kind,

Am abendlichen Rheine stehn,

Wo seine schönsten Borde sind

Und seine grünsten Wellen gehn.[240]

Schwarz sind dein Aug und deine Haare,

Und deine Magd, die Sonne, flicht

Darüber eine wunderbare

Krone von Abendlicht.


Ich aber wandle im Gestein

Und wolkenhoch auf schmalem Steg,

Im Abgrund schäumt der weiße Rhein,

Und Via mala heißt mein Weg!

Dir gilt das Tosen in den Klüften,

Nach dir schreit dieses Tannenwehn,

Bis hoch in kalten Eiseslüften

Die Wege auseinandergehn!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 240-241.
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