[O gieb mir Laut und Stimme]

[117] O gieb mir Laut und Stimme,

O gieb mir Wort und Sang,

Daß ich ein Lied anstimme

Für Dich zum Lobgesang.


Laß mich Dein Geist durchdringen,

Dein hoher Gottesgeist,

Ich will's den Menschen singen,

Wie man Dich, Höchster, preist!


Ich will's der Menschheit singen,

Daß Du die Welten lenkst,

Daß Du das Licht erschaffen,

Daß Du die Meere tränkst.


Daß Du im tiefsten Abgrund

Das kleinste Wesen nährst,

Daß Du vom tiefsten Kerker

Den stillsten Seufzer hörst!


Daß Du mit Deiner Größe

Die Sonnen hast geschmückt,

Doch auch das kleinste Blümlein

An Deine Brust gedrückt;
[118]

Bevor Du es erschaffen,

Bevor Du uns es gibst,

Nimmst Du die kleine Blüte

Und zärtlich Du sie liebst!


Du gibst ihr Glanz und Leben,

Du machst sie zart und schön,

Du gibst ihr Licht und Sonne,

Und läßt sie Sonnen seh'n.


Daß Du die blauen Himmel,

Die goldnen Sterne schufst,

Daß Du mit Deiner Stimme

Der Berge Echo rufst:


Damit man endlich wisse,

Daß jeder Laut Dir kund,

Daß unterdrückter Seufzer

Durchdringt der Tiefe Grund;


Durchdringt der Meere Klippen,

Dringt hin zum Himmelszelt,

Zu Gott dem Allerhöchsten,

Dem Schöpfer aller Welt;
[119]

Daß Er den Seufzer stille,

Dem Schwachen Kraft verleih',

Daß er das Recht bewähre,

Der Unschuld Schutzfels sei.


Quelle:
Friederike Kempner: Gedichte. Berlin 81903, S. CXVII117-CXX120.
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