Drittes Kapitel.

[15] Serpentin lag schlummernd auf seinem Lager; es war in der Nacht, als Sililie das Märchen vom Licht erzählte. Da ersah er im Traum zum erstenmal den Aufgang der Sonne. Er erwachte, und düstere Nacht lag im Gebirge; da ergriff ihn die gewaltigste Sehnsucht, endlich einmal die Klarheit des freien Himmels zu schauen. Eilends raffte er das nötige Reisegeräte zusammen und ging, noch ehe der Meister vom Schlaf erwachte, zum erstenmal die Nacht und die Einsamkeit dieser Wälder zu verlassen.[15]

Keines Weges kundig, lief er an dem schmalen Ufer des Waldstromes hin. In den einsamen Hütten, an denen er vorüberzog, schwieg alles; nur hie und da vernahm er aus einer den Schall einer Ziegenglocke oder den Schlag einer Wanduhr. Um ihn war öde Nacht, vor ihm aber schwebte das klare Bild Sililiens, die ihm seit Erzählung jenes Märchens immer mit einer lichten Glorie um das Haupt erschien.

Bald sah er in der Ferne eine helle, wogende Feuermasse und wie mitten in ihr viele ihm fremd gekleidete Männer, die aufs eifrigste und seltsamste beschäftigt waren. Sie schienen ihm ganz in der Feuermasse zu stehen und aus ihr Sonnen, Feuerringe und lichte Kugeln zu bilden. Er war vor eine Hütte gekommen, wo sie Gefäße aller Art von Glas bereiteten, eine Kunst, die er zuvor noch nie gesehen. Er verwunderte sich nicht wenig, wie eine so geringe glühende Masse durch den Hauch des Bereiters in eine so helle, große Kugel sich ausdehnen und durch geschickte Schwingungen in bestimmte Formen treten konnte.

Er verwunderte sich ob den seltsamen Gefäßen, die hier bereitet standen, und dachte sich selbst ihren Gebrauch aus. Er sah hier runde schwarze Spiegel, in denen wundersame Gestaltungen erschienen, große Pokale von buntem Glas, auf die ringsum Denksprüche und Bilder geschliffen waren, künstliche Figuren, die allerlei Ungetüme und Bilder der Phantasie darstellten. Am längsten aber betrachtete er die flüssige Masse des Glases selbst, die er so lange ansah, bis seine Augen den Glanz nicht mehr ertragen konnten. Der Meister sah den begierigen Jüngling mit freundlichen Blicken an und erklärte ihm die Bereitung des Glases und der Gefäße ausführlich. Dann labte er ihn mit Speise und Trank, und als er zufällig im Gespräche von ihm erfahren, daß er des Flötenspielens nicht unkundig sei, schenkte er ihm beim Abschiede eine kleine Flöte von Kristall, auf der Serpentin auch alsbald die hellsten Töne einer Harmonika hervorbrachte. Derselbe Meister gab ihm auch auf den Weg folgendes Rätsel mit:


»Kennst du den seltsamen Kristall?

Er deutet strahlend himmelwärts,

Rund ist er wie das blaue All,

Und seine Folie ist das Herz.


Es bricht aus ihm ein heilig Licht,

Das ist der werten Folie Glanz:

Wann Lieb' und Leiden die zerbricht,

Zerfließet er in Strahlen ganz.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 15-16.
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