Der Kranke an den Arzt

[137] Arzt! o laß dein schmerzlich Heilen!

Weh zerreißt dein eignes Herz,

Und doch kannst du tröstend eilen

Täglich, ach! zu neuem Schmerz.


Sieh! für all die tausend Wunden

Wächst dir doch kein heilend Kraut,

Hast du eines auch gefunden,

Stillt's kaum einen Seufzerlaut.


Laß, o laß mich doch hinüber!

Sieh! schon war ich frei der Qual,

Und, ein Vogel, flog im Fieber

Hoch ich übers Jammertal.


Voller Hellheit sah ich prangen

Ach! ein Land so lieb und warm,

Fühlte schon mich lind umfangen

Von vielsel'ger Freunde Arm.


Und dein Trank hat mich erwecket,

Daß die frostige Gestalt,

Dieser Leib mich wieder schrecket,

Dieses Leben bang und kalt.


Armer Arzt! Kein Trank, kein Bette

Wärmet den Erwachten nun!

Ach! er liegt an kalter Stätte,

Statt bei Blumen warm zu ruhn!


Denn, als so er schlief im düstern

Stillen Sarg, dem sichern Port,

Hört' er aus der Tiefe flüstern

Geister dieses ernste Wort:


Ein Kraut nur heilt Menschenwunden,

Menschenwunden klein und groß,

Ein Tuch nur hält sie verbunden –

Leichentuch und Grabesmoos.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 137-138.
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