Des Landschaftsmaler Karl Dörrs Tod1

[80] Er, der in mondbestrahlten Bildern

Natur in ihrem Liebesreiz

So klar, so wahr gewußt zu schildern,

Der aussah wie ein Sohn der Schweiz,


Lag nächtlich einst in stiller Kammer,

Voll eines wunderhellen Traums,

Gestreift vom müden Leib den Jammer

Im Dufte eines Blütenbaums.


Ein Fischerhaus auf moos'gem Steine

Stand nah bei eines Baches Fall,

Und über ihm aus dunklem Haine

Sang ihren Schmerz die Nachtigall.[80]


Sie schwieg und plötzlich ward es helle,

Herschwebte eine Lichtgestalt,

Zum Silberblick ward Bacheswelle,

Zum Goldfluß ward der dunkle Wald.


Da lag der Träumer, Gottesfrieden

In seiner warmen Künstlerbrust,

Und sprach: »Wie schön ist's doch hienieden!

Das bild' ich morgen nach voll Lust.«


»Du klares Herz!« sprach die Erscheinung

(Der Mond war es in voller Pracht),

»Schweb' auf zu sel'ger Geister Einung,

Hin, wo dir ew'ger Frühling lacht.


In dir war Wahrheit, war die Treue,

Dein ganzes Wesen war Natur.

Stirb, schwerer Leib! und laß ins Freie

Den treuen Sohn von Wald und Flur.«


Der Morgen kam – des Künstlers Kammer

Eröffnete wie sonst sich nicht;

Ein Freund drang ein und fand – o Jammer!

Nur seine Hülle, ihn doch nicht.


Er hatte keinen Tod gesehen,

Er fühlte keiner Krankheit Pein;

Es nahm den Liebling ohne Wehen

Natur zu sich im Mondenschein.

1

Karl Dörr hatte sich besonders durch naturgetreue Darstellungen von Mondlandschaften ausgezeichnet. Er wurde im Februar 1842 ohne vorausgegangene Krankheit morgens ruhig verschieden im Bette gefunden.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 80-81.
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