Die schwäbische Dichterschule

[22] »Wohin soll den Fuß ich lenken, ich, ein fremder Wandersmann,

Daß ich eure Dichterschule, gute Schwaben, finden kann?«


Fremder Wanderer! o gerne will ich solches sagen dir:

Geh durch diese lichte Matten in das dunkle Waldrevier,

Wo die Tanne steht, die hohe, die als Mast einst schifft durchs Meer;

Wo von Zweig zu Zweig sich schwinget singend lust'ger Vögel Heer;

Wo das Reh mit klaren Augen aus dem dunkeln Dickicht sieht

Und der Hirsch, der schlanke, setzet über Felsen von Granit;

Trete dann aus Waldes Dunkel, wo im goldnen Sonnenstrahl

Grüßen Berge dich voll Reben, Neckars Blau im tiefen Tal;

Wo ein goldnes Meer von Ähren durch die Ebnen wogt und wallt,

Drüber in den blauen Lüften Jubelruf der Lerche schallt;

Wo der Winzer, wo der Schnitter singt ein Lied durch Berg und Flur:

Da ist schwäb'scher Dichter Schule, und ihr Meister heißt – Natur!

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 22.
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