Jünglingstrauer

[146] Wohl hat noch nie ein Mädchen

Mit Liebe mein gedacht,

Noch nie mir stille Freude

In Wink und Kuß gebracht:

Doch liebt mich wohl dies Sternlein,

Bleich zitternd durch die Nacht.


O seht, es blickt so freundlich,

Hält still in seinem Gang

Und lauschet voller Liebe

Oft meinem kleinen Sang;

Da schau' ich wohl mit Tränen

Des Himmels Blau entlang.


Bald kommst du, trautes Sternlein

Und wandelst still umher

Und blickst in meine Zelle,

Die stehet öd und leer,

Und blickst auf meine Harfe,

Die tönet nimmermehr.


Dann ragt aus einem Hügel

Ein kleines Kreuz von Stein;

Du schwebst vorbei, und liebend

Küßt es dein milder Schein,

Und wonniglich erzittert

Im Hügel mein Gebein.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 146.
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