König Georg von England im Jahr 1813

[140] Tief ergraut stieg Englands König

Von der Väter hohem Thron,

Legte Zepter, goldne Krone

In die Hand dem edlen Sohn.[140]


Bald ihm Licht und Rede schwanden,

Einsam stand er in der Nacht,

Also von der Welt geschieden

Hat er Jahre zugebracht.


Plötzlich glänzt des Greisen Auge

Einmal noch im alten Licht,

Wie die halb versunkne Sonne

Einmal noch aus Wolken bricht.


Auch die Rede kam ihm wieder,

Klang ein voller Harfenton,

Treue Diener horchten staunend,

Rufen den geliebten Sohn.


»Heil!« so sprach der Sohn in Freude,

»Heil der himmlisch hohen Macht,

Die dich aus des Innern Nachten

Einmal noch zurückgebracht!


Weil', bis ich dein altes Leben

Dir mit Wein und Frühlingsduft

Und mit süßer, hehrer Kunde

Angefrischt in Kindeslust.


Seit zur Ruhe dir vom Himmel

Schlummer auf die Sinne sank,

Eisenband mit wildem Donner

Vom bedrückten Erdball sprang.


Nordlands Männer schwangen rächend

Eisen in der starken Hand,

Stürme brausten, Flammen tobten,

Zündeten im deutschen Land.


Unter ihren alten Eichen,

Wo sie banger Traum umfing,

Sprangen auf die deutschen Männer,

Sprengten keck der Kette Ring


Drauf des Alten Auge glänzte

Mit des Nordsterns vollem Schein,

Den Pokal ergreift er eilend,

Trinkt in Lust viel goldnen Wein.


Und er ruft in hoher Wonne,

Haltend zitternd den Pokal:

»Nordstern! aller Sonnen Sonne!

Leben trink' ich deinem Strahl![141]


Leben euch, ihr alten Eichen,

Im urfesten, deutschen Land!

Männern, euch, in ihrem Schatten,

Schwert in der gestählten Hand!


Braus, o Meer, in Harfentönen,

Singe hohen Festgesang,

Daß der Hölle Macht- zerschlagen,

Daß des Erdballs Kette sprang!


Was die Zeit in ihrem Laufe

Endlich euch zur Welt gebracht,

Wandelte als volle Sonne

Längst durch meine stille Nacht.« –


Also sprach der Greis entzücket,

Aber kehrte drauf zur Stund'

Wieder in des Innern Nächte,

Nimmer spricht fortan sein Mund.


Doch sein Auge blicket immer

Als ein himmlisch milder Stern;

Treue Diener stehen wartend

Um den alten, edlen Herrn.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 140-142.
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