Lob des Flachses

[46] Wohl hat Sommer sich zum Kranze

Manche Blüte zart gewoben;

Aber, Flachs, dich mildste Pflanze,

Muß ich doch vor allen loben.


Blauen Himmel ausgestreuet

Hast du über dunkle Auen,

Deine milde Schönheit freuet

Die gleich zart geschaffnen Frauen.


Weiches Grün den Stengel zieret,

Blüte trägt des Himmels Helle,

Leis vom Westhauch angerühret

Wogt sie sanft in bunter Welle.


Ist die Blüte dir entfallen,

Zieht man dich aus dunkler Erden,

Darfst nicht mehr im Westhauch wallen,

Mußt durch Feu'r zu Silber werden.[46]


Und die Hand geschäft'ger Frauen

Rührt dich unter muntern Scherzen,

Klar wie Mondschein anzuschauen,

Bist du teuer ihrem Herzen.


In dem blanken Mädchenzimmer,

Leis berührt von zartem Munde,

Schön verklärt von Sternenschimmer,

Wird dir manche liebe Stunde.


Nächtlich in des Landmanns Hütte,

Wo ein flammend Holz die Kerze,

In viel muntrer Mägdlein Mitte

Bist du bei Gesang und Scherze.


Draußen brausen Sturm, Gespenster;

Wandrer wird der Sorg' entladen,

Sieht er hinter hellem Fenster

Heimisch deinen goldnen Faden.


Zarten Leib in dich gekleidet

Tritt das Mägdlein zum Altare;

Liegst, ein segnend Kreuz, gebreitet

Schimmernd über dunkler Bahre.


Bist des Säuglings erste Hülle,

Spielest lind um seine Glieder;

Bleich in dich gehüllt und stille

Kehrt der Mensch zur Erde wieder.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 46-47.
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