Täuschung

[116] Ich lag im Schlaf in Träumen,

In stiller Mitternacht,

Wohl unter Blütenbäumen

In sonnenheller Pracht;


Erwacht, sah ich in Trauer

Entlaubte Bäume nur,

Und düstrer Regenschauer

Durchbebte die Natur.


Ich lag im Schlaf in Träumen,

Ein Freund bot mir die Hand,

Ich reicht' ihm ohne Säumen

Die meinige zum Pfand;


Erwacht, mußt' ich erblicken,

Wie mit dem Dolch der Freund

Stand hinter meinem Rücken;

Nun weiß ich, wie er's meint.


Abschied möcht' ich dir geben,

Du Welt, mit deinem Licht!

Hier innen ist mein Leben,

Da draußen ist es nicht.


Dies Lied hatt' ich gesungen,

Als einer untreu war,

Doch kaum war es verklungen,

Da waren's schon ein paar.


Und sollt' ich jetzt noch singen

Von schlechtem Menschendank,

Die Leier würd' zerspringen,

So lang würd' der Gesang.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 116-117.
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