Das Sprichwort

[77] Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, dachte die Kröte. Denn sie war den ganzen lieben langen Tag und die ganze lange liebe Nacht allein. Niemand mochte sie, niemand ging mit ihr spazieren, niemand spielte mit ihr im Kaffeehaus Tarock, niemand verstand sie.

Es war ein schauderhaftes Leben.

»Zahlen!« zischte sie in der Bar, wo sie bösartig auf einem hohen Schemel hockte und Glühwein trank, was ihr sowieso nie bekam, zog sich ihre Regenhaut an und begab sich zum Schöpfer aller Dinge. Sie lüftete höflich ihren braunen Plüschhut und trug ihm ihr Anliegen vor.

»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei,« sagte sie, weinerlich und betrübt, »habe ich jemandem etwas Leides getan? Ich sehe nur so aus.«

»Entschuldigen Sie,« sagte der liebe Gott, »ich verstehe Sie nicht recht – aber Sie zitierten soeben ein Sprichwort: sind Sie vielleicht ein Mensch?«[77]

Betroffen dachte die Kröte nach, und kleinlaut gab sie schließlich zu:

»Nein.« »Also«, sagte der liebe Gott. –

Die Kröte lebte hinfort einsam weiter. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie war der Dialektik des lieben Gottes nicht gewachsen.[78]

Quelle:
Klabund: Kunterbuntergang des Abendlandes. München 1922, S. 77-79.
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