Zweiter Auftritt


[96] Der Unbekannte – der Major.


UNBEKANNTER. Was steht zu Befehl?

MAJOR. Verzeihen Sie, mein Herr – Ihn plötzlich erkennend. Meinau!

UNBEKANNTER. Horst!


Sie stürzen sich in die Arme.


MAJOR. Bist du es wirklich, alter Freund?

UNBEKANNTER. Ich bins.

MAJOR. Mein Gott, wie hat der Gram dich entstellt!

UNBEKANNTER. Die Hand des Unglücks liegt schwer auf mir. – Stille! – Wie kommst du hieher? was willst du?

MAJOR. Wunderlich! Ich stehe hier und sinne, wie ich den einsiedlerischen Fremden anreden, was ich ihm sagen soll – er erscheint – und siehe da, ich finde meinen braven Meinau.[96]

UNBEKANNTER. Du hast mich also nicht erforscht? Du wußtest nicht, daß ich der Bewohner dieser Hütte sei?

MAJOR. Sowenig, als ich weiß, wer auf der Spitze des Kaukasus wohnt. Du hast diesen Morgen meinem Schwager das Leben gerettet; eine dankbare Familie wünschte dich in ihrer Mitte zu sehen; du schlugst es dem Kammermädchen meiner Schwester ab, und um der Einladung mehr Gewicht zu geben, sandte man mich selbst. Siehe da das Vehikel, dessen sich der Zufall bedient hat, mir den Freund wieder zu schenken, dessen mein Herz so lange entbehrt, und dessen es gerade in diesem Augenblick so sehr bedarf.

UNBEKANNTER. Ja, ich bin dein Freund, dein wahrer Freund. Du bist ein guter Mensch, ein seltner Mensch. Mein Herz ist unverändert gegen dich. Ist aber diese Versicherung dir lieb und wert – so – Horst! – so verlaß mich und komme nie wieder zu mir.

MAJOR. Alles, was ich von dir sehe, alles, was ich von dir höre, ist mir ein Rätsel. Du bist es, dein Gesicht schwebt vor mir, aber das sind nicht die Züge, welche einst unsere französischen Mädchen bezauberten, Freude in jede Versammlung brachten, dir Freunde erwarben, ehe du noch den Mund auftatest.

UNBEKANNTER. Du vergissest, daß ich sieben Jahre älter geworden bin.

MAJOR. Freilich, dann bist du ein paar Jahre über dreißig. – Warum vermeidest du mich anzusehn? ist Freundesantlitz dir zuwider geworden? oder bist du scheu, dein Auge zum Spiegel deiner Seele zu machen? Wo ist der offene Feuerblick, der sonst in aller Herzen las?

UNBEKANNTER bitter. Mein Blick las in aller Herzen? Ha! ha! ha!

MAJOR. O Gott! lieber hätt' ich gewünscht, dich nie lachen zu hören, als in diesem Tone. – Freund, was ist dir widerfahren?

UNBEKANNTER. Alltägliche Dinge – der Welt Lauf – Begebenheiten, wie man sie auf allen Straßen hört. – Horst! wenn ich dich nicht hassen soll, so verschone mich mit Fragen; und wenn ich dich lieben soll, so verlaß mich!

MAJOR. Pfui, wie das Schicksal einen Menschen verhunzen kann! Ich bitte dich, wecke die schlummernden Ideen von Freuden der Vergangenheit, daß dein Herz wieder warm werde, und fühle, daß ein Freund ihm nahe ist. Erinnere[97] dich unserer froh durchlebten Tage im Elsaß, nicht jener tollen Schwärmereien im lärmenden Gewühl unserer Kriegskameraden; nein, jener heitern sanften Stunden, wo wir uns von allem, was uns umgab, losrissen, wo wir einsam wandelten, Arm in Arm, auf den Wällen von Straßburg, oder am Ufer des Rheins, wo die Schönheiten der Natur unsere Herzen öffneten, und sie für Wohlwollen und Freundschaft empfänglich machten. In jenen seligen Augenblicken ward der Bund geknüpft, der unsere Seelen aneinander kettete; in einem jener seligen Augenblicke gabst du mir diesen Ring zum Pfande deiner Liebe. Erinnerst du dich dessen noch?

UNBEKANNTER. O ja.

MAJOR. Bin ich seitdem deines Vertrauens unwert geworden?

UNBEKANNTER. Nein, nein.

MAJOR. Waren wir je bloße Alltagsfreunde, durch Laune, Zufall und Lustbarkeiten aneinander geknüpft? Haben wir uns nur in bunten Zirkeln miteinander herumgetrieben? oder haben wir auch dem Tode unter den Batterien von Gibraltar, Hand in Hand, getrotzt? – Karl! es tut mir weh, daß ich meine Rechte auf dich so geltend machen muß. – Kennst du diese Narbe?

UNBEKANNTER. Bruder! Es war der Hieb, der mir den Kopf spalten sollte. Ich hab' es nicht vergessen. Ach! du wußtest freilich nicht, welch ein elendes Geschenk du mir machtest.

MAJOR. So rede, ich bitte dich!

UNBEKANNTER. Du kannst mir doch nicht helfen.

MAJOR. So kann ich mit dir trauren.

UNBEKANNTER. Pfui, das mag ich nicht. Auch hab' ich selbst schon lange keine Tränen mehr.

MAJOR. So gib mir Worte statt Tränen; beide erleichtern das Herz.

UNBEKANNTER. Das meinige ist gleich einem lange verschlossenen Grabe. Laß faulen und verwesen, was dort verscharrt wurde! Warum es öffnen und die Luft umher verpesten?

MAJOR. Lüften wollen wirs und reinigen, damit das ganze Gebäude ein anderes Ansehen gewinne. – Wie du aussiehst! Schäme dich! Ein Mann von deinem Kopfe, von deinen Talenten; ein Mann wie du, der immer die Weltweisheit praktisch übte; und sich so unter dem Pantoffel des Schicksals zu beugen! – Bist du von Schurken verfolgt und von Buben geneckt worden, so mag es hingehn; hast du jahrelang in Ketten gesessen, so will ich dir verzeihen.[98]

UNBEKANNTER. Horst, du tust mir unrecht. Zwar glaubt' ich, es sei mir gleichgültig geworden, was irgendein Mensch in der Welt von mir denken mag; aber ich fühle in diesem Augenblicke, es ist nicht ganz so. Der Freund soll den abgeschiedenen Schatten des Freundes nicht verlassen, ohne zu erfahren, wie die Hand des Schicksals ihn für jede Freude des Lebens mordete. – Wohlan! – Ja, in ein paar Worte läßt sich viel Unglück fassen. – Bruder! ich verließ dich und die französischen Dienste; von jenem Augenblicke an floh mich das Glück. Mir winkte mein Vaterland. Was träumt' ich mir nicht für süße Bilder, wie ich da leben und wirken wollte, manchen alten Schlendrian verbessern, manche Torheit, die sich in hundertjährigen Nebel hüllt, zuschanden machen. O wem seine Ruhe lieb ist, der wage sie nicht an die Torheiten der Menschen! Ich wurde verfolgt, geneckt, für einen gefährlichen Menschen ausgeschrien. »Witz hat er«, so sprach man überall, »aber ein böses Herz«. Das ärgerte mich. Ich schwieg, tadelte nichts mehr, lobte alles, buhlte um das Zutrauen der Menschen – vergebens! Sie konnten mir's nie vergessen, daß ich einst hatte klüger sein wollen, als sie. Ich zog mich in mich selbst zurück, war mir selbst genug, und lebte einsam mitten in der Residenz. Man hatte mich zum Obristlieutenant gemacht; denn man wollte mein Vermögen gerne im Lande behalten. Ich versah meinen Dienst mit Pünktlichkeit und Eifer, ohne emporzustreben, ohne Auszeichnung zu begehren. Mein Obrister starb; es gab eine Menge Obristlieutenants, die weit längere Zeit gedient hatten, als ich. Ich erwartete einen von diesen befördert zu sehen, und das ließ ich mir gern gefallen. Aber siehe da, der Fürst hatte eine Mätresse, und diese hatte einen Vetter, einen albernen eingebildeten Laffen, der seit sechs Monaten die Uniform trug; der wurde mein Obrister. Es versteht sich, daß ich den Abschied foderte und erhielt. – Einige Spöttereien über den Einfluß der Dame machten mich zum Gefangenen auf der Festung. Da saß ich ein halbes Jahr und kauete an den Nägeln. Man gab mir meine Freiheit. Ich raffte mein Vermögen zusammen und ging aus dem Lande. Mit Menschenkenntnis gewaffnet – so bildete ich mir ein – sollte es mir nun leicht werden, mit und unter den Menschen fortzukommen. Ich wählte Kassel zu meinem Aufenthalte. Alles ging vortrefflich. Ich fand Freunde, die mir liebkoseten, mich verhätschelten, mir mein Geld abborgten und[99] meinen Wein austranken. Endlich fand ich auch ein Weib, ein schuldloses, herrliches Geschöpf, von kaum funfzehn Jahren. O wie liebt ich sie! ja, damals war ich glücklich! Sie gebahr mir einen Sohn und eine Tochter; beide hatte die Natur mit der Schönheit ihrer Mutter gestempelt. O wie liebt' ich mein Weib und meine Kinder! ja, damals war ich recht glücklich! Er wischt sich die Augen. Siehe da, noch eine Träne; hätt' ichs doch kaum gedacht. Willkommen, ihr alten Freunde! wir haben uns lange nicht gesehen. – Nun, Bruder, meine Geschichte ist gleich zu Ende. Der eine meiner Freunde, den ich für einen ehrlichen Kerl hielt, betrog mich um mein halbes Vermögen. Ich verschmerzte das, ich schränkte mich ein; Zufriedenheit bedarf wenig. Da kam wieder ein anderer Freund, ein Jüngling, an dem ich Behagen gefunden, den ich mit meinem Gelde unterstützt, dem ich durch mein Ansehen emporgeholfen, der verführte mir mein Weib – und lief mit ihr davon! – Ist dir das genug, um mir meinen Menschenhaß, meine Abgeschiedenheit von der Welt zu verzeihen? – Bin ich etwa ein Phantast, der Verfolgung ahndete, wo niemand an ihn dachte? Oder bin ich bloß ein Opfer der Gewalt eines einzelnen? Wollte Gott! Ein König kann nur in Fesseln schmieden, oder töten: ach! was sind Fesseln und Tod gegen die Untreue eines geliebten Weibes?

MAJOR. Das deiner unwert war. Pfui, Meinaul Daß ein Mann sich um ein gutes Weib quälen kann, – ist schon eine Torheit; aber um ein untreues Weib auch nur eine Träne vergießen, ist Raserei.

UNBEKANNTER. Nenn es wie du willst, sprich was du willst, das Herz kehrt sich an kein Vernunftgeschwätz. Ach! ich liebe sie noch.

MAJOR. Und wo ist sie?

UNBEKANNTER. Das weiß ich nicht, verlang' es auch nicht zu wissen.

MAJOR. Und deine Kinder?

UNBEKANNTER. Die ließ ich in einem Landstädtchen nicht weit von hier bei einer Bürgerswitwe, die mir ehrlich genug schien, weil sie dumm genug war.

MAJOR. Schon wieder ein menschenfeindlicher Seitenhieb! Doch warum behieltest du deine Kinder nicht bei dir? Sie würden dir manche schwermütige Stunde weggegaukelt haben.[100]

UNBEKANNTER. Daß die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter mir täglich das Bild entflohener Freuden zurückgerufen hätte? Nein! ich habe sie in drei Jahren nicht gesehen. Ich mag keinen Menschen um mich haben, weder Kind noch Greis; das Kind ist ein werdender Bösewicht, und der Greis ein vollendeter Schurke! Wahrlich! hätte unsere vornehme Erziehung mir nicht einen Bedienten zum Bedürfnis gemacht; ich würde den meinigen längst weggejagt haben, ob er gleich nicht der schlechteteste unter den schlechten ist.

MAJOR. Das kommt dabei heraus, wenn man eine Frau von unsern sogenannten guten Familien heuratet; die beobachten von Jugend auf in ihren Ehestandsbegriffen die late Observanz. Drum, Meinau, siehst du mich entschlossen, ein Weib aus dem Bürgerstande zu heuraten.

UNBEKANNTER. Du heuraten? Ha! ha! ha!

MAJOR. Du sollst sie sehn. Komm mit mir! Meine Familie erwartet dich mit Sehnsucht.

UNBEKANNTER. Ich mich wieder unter Menschen herumtreiben! Hab' ich mich noch nicht bestimmt genug erklärt?

MAJOR. Das hast du freilich. Aber ich erkläre dir hiemit feierlich, daß du alle Zartheit der Empfindung beleidigen würdest, wenn du nicht wenigstens diesen Abend kämest, eine Suppe bei meinem Schwager zu essen. Jemand eine Wohltat erzeigen und keinen Dank fodern, ist edel und schön; aber diesem Dank so geflissentlich ausweichen, daß die Wohltat dem andern zur Last wird, ist Affektation.

UNBEKANNTER. Gilt das mir?

MAJOR. Ich will gern glauben, daß es nicht dein Fall ist; denn ich kenne dich besser: aber ich bitte dich, was sollen die Meinigen von dir denken? Es gibt schöne Dinge in der Welt, die man nicht zu weit treiben darf; Dinge, die anfänglich Bewunderung erregen, hinterdrein Verdruß, und am Ende eine Art von bittrer Gleichgültigkeit.

UNBEKANNTER. Bruder, es gibt auch Dinge in der Welt, die sich besser predigen, als befolgen lassen. Wenn du wüßtest, wie mich jedes fremde Menschengesicht anekelt, wie ich lieber auf Millionen Nadeln sitzen möchte, als auf einem gepolsterten Stuhle in euren eleganten Zirkeln; wie mir das auf den ganzen Tag meine beste Laune verderbt, wenn ich nur von ferne einen Menschen auf mich zukommen sehe, dem ich nicht mehr ausweichen kann, und vor dem ich also meinen Hut ziehen muß. – O laß mich! laß mich in Ruhe![101] – Jeder Mensch sucht um sich her sich einen eigenen Zirkel zu bilden, dessen Mittelpunkt er selbst ist; so ich den meinigen. Solange noch eine Vogelkehle in diesem Walde ist, welche die Morgensonne begrüßt, solange wird mir's an Gesellschaft nicht fehlen.

MAJOR. Tu morgen und übermorgen, was dir gefällt; aber leere heute ein Glas Wein mit mir.

UNBEKANNTER fest. Nein! Nein!

MAJOR. Auch dann nicht, wenn du vielleicht imstande wärest, durch diesen einzigen Besuch das Glück deines Freundes zu gründen?

UNBEKANNTER stutzend. Dann – ja! Aber laß hören!

MAJOR. Du sollst mein Freiwerber sein bei Madam Müller.

UNBEKANNTER. Ich? – Guter Horst! wenn ich auch einst Talente zu solch einem Auftrage hatte, so sind sie schon lange verrostet.

MAJOR. Nicht doch. Sieh, Bruder, ich liebe ernstlich, und meine Liebe ist eine Frucht der Hochachtung. Sie ist ein herrliches Weib! Und wenn ich so vor ihr stehe; von allem kann ich mit ihr schwatzen, nur nicht von meiner Liebe. Denn sie hat da einen Blick in ihrer Gewalt – einen Blick, der die Zunge fesselt. Zwar hatte meine Schwester übernommen – aber das frommt nicht; ihr Lob klingt parteiisch. Du hingegen – einem so sauertöpfischen Gesicht, wie das deinige, glaubt man am ersten. Bruder, wenn du meine paar guten Eigenschaften ein wenig gegen sie herausstreichest –

UNBEKANNTER. Sieh da, wieder ein Mensch, der betrügen will.

MAJOR. Nun, ich denke nicht, daß sie übel mit mir fahren soll. Ich bitte dich, Meinau; es gilt Wohl und Weh deines Freundes. Ich schaffe dir Gelegenheit, sie allein zu sprechen. Willst du?

UNBEKANNTER nach einer Pause. Ich will. Aber unter einer Bedingung.

MAJOR. Sprich!

UNBEKANNTER. Daß du mich morgen ohne Widerrede abreisen lässest.

MAJOR. Abreisen? Wohin?

UNBEKANNTER. Wohin Gott will! unter Menschen, die mich nicht kennen.

MAJOR. Halsstarriger!

UNBEKANNTER. Du versprichst das – oder ich komme gar nicht.[102]

MAJOR. Wohlan, ich verspreche es. Vielleicht sind deine Ideen heiterer beim Aufgang der Sonne. Ihm die Hand reichend. Folge mir!

UNBEKANNTER. Ich muß mich doch erst ein wenig ankleiden.

MAJOR. So erwarten wir dich in einer halben Stunde. Du gabst mir dein Wort.

UNBEKANNTER. Ich gab es.

MAJOR. Leb' wohl! Ab.


Quelle:
August von Kotzebue: Schauspiele. Frankfurt a.M. 1972, S. 96-103.
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