Der 1. (31.) Kühlpsalm

[97] Ausgebrochen im göttlichem Zuge zur wahren Gelassenheit, unter seiner ihm noch unergriffenen gefährlichsten Zurükkreise, zu Galipolis in Romanien den 22. Aug. 1678.


1.

Seelewig sas auf den wellen

Wankelbahrer als das Meer:

Unmutt wolte sich gesellen

Mit dem gantzen Trauerheer.

Si erflammte beizuhaben,

Di im innerm Himmel wohnt,

Und vor Jesusthrone thront,

Um mit ihren heilgen gaben

Sich aufs neue zuerlaben,

Von dem eiteln gar verschont.


2.

Als si war in dem verlangen,

Und Sophien freundlich rif,

Merkte si, wi si gefangen

Lag in dreien kerkern tif.

Wi drei Ketten si gebunden,

Und an ider tausend glid:

Wi an idem tausend nid,

Dran sich ketten heimlich funden,

Di si allgemach umwunden,

Das si von sich selbsten schid.


3.

Si ersah drei Kerkermeister;

Ider schlos vil schlösser vor:

Idem folgten siben Geister,

Di verrigelten ihr thor.

Si erschrak bei solchen nöthen,

Vor der grausen hauptgefahr,

Di ihr näher als ihr haar,

Das si schri um Jesusröthen

Um sein Kreutz und Todestödten,

Und was Noth aus ihr gebahr.
[98]

4.

Seelewig erfuhr mit jammern,

Das di drei dadurch ergrimmt:

Ider brachte häuffig klammern,

Und was mit gefängnis stimmt.

Ider schri mit vollem Munde:

Du bist mein in meiner Macht,

Drein du selber dich gebracht.

Dann du bist aus meinem grunde,

Und aus meinem Ursprungsschlunde:

Was du ruffest, wird verlacht.


5.

Seelewig von Angst ohnmächtig,

Senkte sich in Jesushertz:

Höchstgelassen, gantzeinträchtig,

Ledig fast von freud und schmertz.

Si ergab sich Gottesgnaden,

Weil erbarmungs si unwerth:

Gotteswille ward begehrt.

Wozu Gott si wolt einladen,

His ihr Nutzen, nicht ihr schaden,

Fand sich ni darzu beschwert.


6.

Si ward in sich wi verzükket,

Das Geschöpffe so verblendt

Sich vom Schöpffer selbst entrükket,

Und so schändlich abgewendt,

Heilger Vater! Ach verzeihe!

(Sprach si überausbetrübt,

Gegen Gott durchausverlibt.)

Sih ich opffre mich zur reue!

Ich erstarr in deiner treue,

Di mir reinste Libe gibt.


7.

O du Wesen aller Wesen!

Alles Dir in Dir aus Dir!

Du bist Aller Allgenesen,[99]

Anfang, Mittel, Ende, Zir!

Der du warest, bist und bleibest,

Was du warest, bist und bleibst!

Der du thatest, thust und treibest,

Was du thatest, thust und treibst.

Der du tilgest und bekleibest,

Was du tilgest und bekleibst.


8.

Schuffstdu nicht Geschöpf im Willen,

Das si schmekkten deiner gütt?

Wolstdu si mit dir nicht füllen,

Als der Ewikeit geblütt?

Wi ein Vater dich ergetzen

An den Kindern deiner krafft

Heiliglichter Völkerschaft?

Ewig freud zur freude sätzen

Sonder einiges verletzen

Aus dir in dir hergerafft?


9.

Sind di Engel nicht entstanden

Nur aus solchem heilgem schlus?

Warum ging ein thron zuschanden?

Brach sich ab vom Vaterkus?

Undank, der nicht auszusprechen!

Hattstdu das um si verdint,

Das di Hölle si gebühnt?

Das der Freuden Reich si schwächen?

Ists nun Unrecht dis zurächen?

Welches Lob ist (Ach!) vergrünt?


10.

Schuffstdu nicht den Menschenengel,

Das er wär an jenes stell?

Woraus sind di neuen mängel?

Ach es ist nur allzuhell!

Doch weils Adam nicht erwekket,

Wirstu Mensch in deinem Wort,

Führest deine Libe fort,

Bis sein Kreutze Uns entflekket,[100]

Das von Uns nur sei geschmekket

Dein unendlich Libesort.


11.

Ach unsprechlich Libeszeugnis!

Hastdu Unser i gebraucht?

War dis Uns zu einer beugnis?

Sih, wi Sodom in Uns raucht!

Ach ich schäme mich mit schämen!

Beuge, Vater, hertz und aug!

Bins unwürdig, das ich saug!

Darf di Kindschafft nicht annehmen!

Wil zu allem mich bequemen,

Weil ich (Undank!) noch nicht taug!


12.

Falle, Vater, dir zun füssen!

Thue mit mir, was zuthun!

Bins nicht werth Sophiens wissen!

Noch das du bei mir solst ruhn!

Las mich ewig vor dir leben,

Wi du wilst, nur dir zur ehr!

Stets dir dinen mehr und mehr!

Deinen nahmen hocherheben!

Um di Heilgen eintzig schweben!

Vater, wo du wilst, erhöhr!


13.

Wilstdu sonst mich nicht entkerkern,

Mich auf ewigst also sehn,

Täglich änger noch einärkern:

Wanns dein Will, er mag geschehn.

Mache mich darzu nur tüchtig.

Vater, wann es deine Weis,

Acht ich weder schweis noch reis:

Wanns dein Will, es ist schon richtig;

Wanns dein Wink, es ist mir wichtig!

Vater, dein sei Reis und Preis!


14.

Seelewig ist drauf ersunken,

Aus sich in sich übersonnt:

Von der Gotteslibe trunken,

Unvernünfftiglich bewonnt.[101]

Si entschränket ihre schranken,

Reisset sich von sich und Ichts

Zu dem erstem All und Nichts,

Zu dem Ungrund ohne Wanken,

Voll von Libe, voll von danken,

Voll des lichten Lichteslichts.


15.

HeiligHeiligHeilig Wallen,

HeiligHeiligHeilig sein,

HeiligHeiligHeilig hallen

Dringet von ihr aus und ein.

Alles wil ihr gleiche werden,

Freuden, Leiden, Müh und Rust,

Träget Paradisesblust,

Findet ohne Scheingeberden

Ihren Himmel auff der Erden,

Weil Gott überall bewust.

Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 97-102.
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