Der 2. (32.) Kühlpsalm

[102] Als er zur aussprechung der Libe Gottes weder Anfang, Mittel, noch Ende fand; im göttlichen Strahl übersinnlich seiner Gelassenheit wegen schon bewonnet: zu Tenedos, gegen Troas über, da Paulus im gesichte nach Macedonien geruffen, und den Jüngling Eutychus aufgewekket, ohne Anfang, Mittel und Ende gesungen den 25. und 26. Aug. 1678.


1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Gottes Lib ist über sinnen,

Über Menschliches beginnen,

Über der Vernunft begrif,

Weite, Breite, Länge, tif.

Drum wil ich demüttig schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich ausklähre für und für.
[102]

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 1.

Gottes Lib ist sonder gleichen:

Der Verstand mus furchtsam weichen

Ihrem heilighellem Blitz

Ewigstgrösser Wunderhitz.

Drum wil ich gelassen schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich auslasse für und für.


3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 1. 2.

Gottes Lib ist zuerfahren,

Durch ein ewigs offenbahren,

Durch ein ewigs Unverstehn,

Und ungründliches erhöhn.

Drum wil ich verlibet schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich auslibe für und für.


4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 1. 2. 3.

Gottes Lib ist ausgeflossen,

Allen offen und verschlossen;

Gottes Kindern zugewand;

Und doch ewigst unbekand.

Drum wil ich sanfftmüttig schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich aussänffte für und für.


5. 6. 7. 8. 9. 10. 1. 2. 3. 4.

Gottes Lib ist über Libe,

Immer lauter, nimmer trübe:

Quillet zu des Schöpffers Ehr

Ewigewigst mehr und mehr.

Drum wil ich wahrhafftig schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,[103]

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich ausläutre für und für.


Zweiter Theil.


6. 7. 8. 9. 10. 1. 2. 3. 4. 5.

Gottes Lib ist über Schöne;

Schöner, als von ihr gethöne:

Zirlicher, als imand denkt,

Weil si allem Zirde schenkt.

Drum wil ich ertaubend schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich aussehe für und für.


7. 8. 9. 10. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Gottes Lib ist über Höhren;

Anmutt wil sich ewigst mehren.

Unerforschbar wird ihr Klang:

Immermehr, imehr ausdrang.

Drum wil ich erstarrend schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich aushöhre für und für.


8. 9. 10. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Gottes Lib ist über rüchen:

Kein Geruch wird ihr verglichen.

Reuchet ewigewigst dar:

Wunderbahrer, als si war.

Drum wil ich erstaunend schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich ausrüche für und für.


9. 10. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Gottes Lib ist über Süsse:[104]

Güsset von sich meer und flüsse

Lauter schmekkensvoller krafft

Heiligsüsser Gnadenschafft.

Drum wil ich entsätzend schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich ausschmekke für und für.


10. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Gottes Lib ist über fühlen:

Si wil ewig sänffter spilen,

Als si spilte nun bekend

Sonder Anfang, Mittel, End.

Drum wil ich unfühlbar schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich ausfühle für und für.


Tenedosischer Nachklang.


6. 11. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 9. 8. 7. 6. 5. 4. 3. 2. 1

Gottes Lib ist über schranken

Unerdenklicher Gedanken:

Über Engel, Mensch und Geist,

Dar bewust, da si ausfleust.

Drum wil ich erzitternd schweigen,

Drum wil ich erschrokken schweigen,

Drum wil ich verzükket schweigen,

Drum wil ich vertiffet schweigen,

Drum wil ich erbebend schweigen,

Drum wil ich verwundernd schweigen,

Drum wil ich erstummet schweigen,

Drum wil ich versätzet schweigen,

Drum wil ich verzaget schweigen,

Drum wil ich beschweigend schweigen,

Mich nach Jesus Wunden neigen,

Das selbst Gottes Lib in mir

Sich verklähre für und für,

Sich aussonne für und für,[105]

Sich ausscheine für und für,

Sich auswürke für und für,

Sich ausbreche für und für,

Sich ausgüsse für und für,

Sich ausflüsse für und für,

Sich ausöffne für und für,

Sich austage für und für,

Sich ausrede für und für.

Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 102-106.
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