Das neue Lied

[157] Jetzt hab' ich satt den schlappen Singsang

Von Liebe, Triebe, Weh und Ach,

Den veilchenblauen Goldschnittsklingklang,

Ich durst' nach einem Donnerschlag;

Verfaulten Leichen gilt ihr Singen,

Voll Aasgestank die Poesie –

Drum laßt ein neues Lied erklingen

Nach einer neuen Melodie!


Schafft ab die ungesunde Mode,

Den Leib zu betten in die Gruft,

Verbrennt, was zinsbar ward dem Tode,

Und streut die Asche in die Luft;

Die Asche soll den Acker düngen,

Friedhof, mach' Platz der Industrie –

Und laßt das neue Lied uns singen

Nach einer neuen Melodie.
[157]

Die Blumen, die auf Leichen blühen,

Sind ohne Düfte und verjaucht,

Die Herzen, die für Totes glühen,

Sind für das Leben längst verbraucht,

Nur ein gesunder Geist kann singen

Die zeitgerechte Poesie –

Drum laßt ein neues Lied erklingen

Nach einer neuen Melodie!


Laßt die Vergangenheit vergangen

Und laßt begraben sein, was tot,

Und faßt ein mutiges Verlangen

Nach Sonnenlicht und Morgenrot;

Wir sind noch jung, uns muß gelingen

Die längst erträumte Poesie –

Ein neues Lied soll jetzt erklingen

Nach einer neuen Melodie!


Münster, Juli 1890


Quelle:
Hermann Löns: Sämtliche Werke, Band 1, Leipzig 1924, S. 157-158.
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