|
[229] Über die Heide ging ich, die Heide so weit und so breit,
Mürrische Worte raunte ins Ohr mir die Einsamkeit.
Raunte von toten Zeiten, da hier noch der Urstier zog,
Über dem Bruche der Adler himmelhoch kreisend flog;
Da der Grauhund, der grimme, Mordrunen ließ im Sand,
Da noch das Elch, das starke, fiel von des Jägers Hand.
Da noch nicht welsche Weise Gut in Böse verkehrt,
Wode und Frigga, die Hehren, standen hochgeehrt;
Da noch Mannesmut galt und nicht allein das Geld,
Da mit dem blanken Schwert wahrte sein Recht der Held;
Nicht mit feigem Worte, und nicht mit billigem Eid;
Also lehrte mich heimlich die Toteneinsamkeit.
Unsere Götter die hießen einstmals Liebe und Kraft,
Kraft, die Leben erzeugt, Liebe, die Wonnen schafft.
Unser Gesetz war kurz, unser Gesetz war das:
Liebe um Liebe, aber auch Haß um Haß.
Treuhand jedwedem Mann, der sich erwies als Freund,
Bluthand dagegen dem Wicht, so sich da nahte als Feind.
Andere Zeiten zogen über das Heideland,
Vor der tückischen Axt Wodes Lobewald schwand;
[229]
Frigga die freundliche Fraue wurde zur Hexe verkehrt,
Jeglicher heilige Ort zur Greuelstätte entehrt;
Wodes edles Geflügel hieß Galgenvogel nun,
Friggas schelmisches Eulchen schimpften sie Leichenhuhn;
Und die Dreizehn, die hohe Geheimniszahl,
Unglücks- und Angstnummer wurd' sie mit einemmal.
Zwischen Eichen erhob sich ein einsames Strohdachhaus,
Mährenhäupter reckte der moosige Giebel heraus;
Unter ihm aber nach freundlicher Altsitte noch
Eingeschnitten als Herz starrte das Ulenloch.
An dem Missetürbalken, dem grauen, nach alter Weis'
Eingehauen und bunt prangte der heilige Kreis,
Und die Sonnenrune, die gute, daneben auch,
Nach der Urvorväter ernsthaft beharrlichem Brauch.
Rechts und links von der schwarzblanken Feuerwand
Wodes Schlachtroß mutig sich bäumend stand;
Gleich als wollte es lauthals mir wiehern zu:
Noch trage Wode ich, Freund, noch trauest Frigga du.
Weiter ging ich über das dämmernde Land,
Hinter dem rund und rot das gute Gestirn verschwand;
Ihm gegenüber weit hinter dem bräunlichen Bruch
Eine glührote Flamme zum sternleeren Himmel schlug;
Vor dem nachtschwarzen Wald weiß stieg der Rauch empor,
Bis er im Abendgewölke sich langsam verlor.
Und ich stand und stand und sah nach dem Feuerschein,
Hörte der Mädchen Gejuche, der Jungkerle gellendes Schrei'n,
Und ich lachte und dachte: der Urväter fröhliche Art
Hat sich trotz alldem mein Volk immer noch treulich bewahrt.
Immerdar lobt es noch nach der Vorväter schönem Brauch
Seinen Gott mit Glühglut und weißem Wirbelrauch.
Immer noch blieb es, wie es vor Urzeiten war,
Blau von Auge und Sinn, hell von Herzen und Haar.
[230]
Immer noch hielt es sich am Leibe und Geiste stark,
Immer noch blieben gesund ihm Bein und Blut und Mark.
Über die Heide ging ich, die Heide so weit und breit,
Fröhliche Worte raunte ins Ohr mir die Einsamkeit.
Ausgewählte Ausgaben von
Mein blaues Buch
|
Buchempfehlung
Demea, ein orthodox Gläubiger, der Skeptiker Philo und der Deist Cleanthes diskutieren den physiko-teleologischen Gottesbeweis, also die Frage, ob aus der Existenz von Ordnung und Zweck in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer oder Baumeister zu schließen ist.
88 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro