Der Bildhauer und die Jupiter-Statue

[162] Ein Bildner schafft sich einst ins Haus

Den schönsten Marmor, den er fand.

»Was formt mein Meißel wohl daraus?

Was wählt er sich zum Gegenstand?


Ein Becken?« fragt er. »Einen Gott,

Der in der Hand den Donner hält?

Erzittert, Menschen! Schweige, Spott!

Denn vor euch tritt der Herr der Welt!«


Der Künstler meißelt emsig fort,

Und Jupiter steht bald beseelt,

Als ob dem Gotte nur das Wort

Zur äußeren Belebung fehlt.


Der Meister selbst, der es erweckt,

Und dessen Hand ihm Formen lieh,

Sinkt, von des Bildes Macht erschreckt,

Vor seinem Werke in die Knie.


Der Furcht, die dieser hier verriet,

Stand einst der Dichter wenig nach,

Der vor dem Gott in Angst geriet,

Den erst sein Griffel heilig sprach.


Er war darin ganz wie ein Kind,

Das nur die eine Sorge hegt,

Daß stets die Puppe wohlgesinnt,

Und niemand ihren Zorn erregt.
[163]

Das Herz folgt dem Gedanken nach.

Und solchem Quell entspringt wohl auch

Die Furcht, die Götzen heilig sprach,

Und die bei Heiden ernster Brauch.


Dem, was dem eignen Hirn entstammt.

Wird gern Verehrung dargebracht.

So war Pygmalion entflammt

Für Venus, die er selbst gemacht.


Ein jeder möchte gerne bald

Sein Traumgespinst verwirklicht sehn;

Die Wahrheit läßt ihn stumm und kalt,

Die Lüge gleich in Flammen stehn.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 162-164.
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