Die in ein Mädchen verwandelte Maus

[164] Aus Eulenschnabel fiel einst eine Maus.

Ich hätte sie nicht aufgehoben.

Doch ein Brahmine tat's und nahm sie mit nach Haus.

Ich glaub's; denn jedes Volk gebietet andre Proben

Von Nächstenliebe. Würden wir

Uns viel bemühn um ein geschundnes Tier?

Nein, dreimal nein! Doch der Brahminen Volk behandelt

Das Tier als Bruder; denn sie glauben fest,

Daß unsre Seele, wenn sie ihren Herrn verläßt,

In eine Käsemade wandelt

Oder in andre Lebewesen,

Wofür sie just das Schicksal auserlesen.

Das ist ein alter Glaubenssatz bei ihnen,

Pythagoras schon kundete ihn aus.

Und so erklärt sich auch die Bitte des Brahminen

An einen Zaubrer, seiner Maus

Den Leib zurückzugeben,

Den sie besaß im Leben.

Der Zaubrer tat's. Was kam heraus?

Ein Mädchen, fünfzehn Jahre eben,

So schön, daß hier um einen Kuß

Der kühne Sohn des Priamus

Weit mehr gewagt noch hätte als um Helena.

Als der Brahmine überrascht die Schönheit sah,

Da sprach er: »Du brauchst nur zu wählen,

Du kannst gewiß auf jeden zählen,

Der dir zum Gatten mag gefallen.«

»So gebe ich mein Wort dem mächtigsten von allen.«[165]

»Dir Sonnengott dein Lohn!«

Rief der Brahmine laut;

»Sei du mein Schwiegersohn

Und nimm die schönste Braut!«

»Nein«, rief der Gott darauf,

»Noch mächtiger als ich

Ist dieser Wolkenhauf,

Denn er verdunkelt mich.

Er sei von dir erkoren!«

»Für dich, Gewölk, geboren

Ist also dies mein Kind«,

Rief der Brahmine wieder.

Von droben tönt es nieder:

»Nein, stärker ist der Wind,

Er jagt mich nach Gefallen;

Dem Boreas vor allen

Gehört die Schöne an.«

Verdrießlich sprach der Mann:

»Auf, kommen wir zum Schluß,

Und da es dich, o Wind,

Doch einmal geben muß,

So komm und nimm das Kind!«

Der kam in schnellem Lauf.

Da hielt ein Berg ihn auf.

Der fing den Ball und warf

Ihn weiter: »Nein, ich darf

Die Ratte nicht verletzen,

Die mich durchbohren kann;

Sie würde mich zerfetzen,

Trät ich als Freier an.«

Es spitzt beim Worte Ratte

Die Schöne ihre Ohren:

»Ja, dieses ist mein Gatte!«[166]

Die Ratt, die Ratt erkoren!

Das war ein Sprung, wie ihn die Liebe liebt.

Beweise? Nun, ihr wißt, daß es recht viele gibt.

Man kommt von jenem Ort,

Dem man entstammt, nicht fort.

Die Fabel hat den Fall bewiesen.

Doch prüft man näher, findet man dabei

Ein gutes Teil Sophisterei.

Zum Gatten sich den Sonnenball erkiesen?

So töricht wäre eine Schöne nicht.

Und darum schwächer nennen einen Riesen

Als einen Floh, nur weil der Floh ihn sticht?

Und mußte nicht die Ratt der Katze unterliegen,

Die Katz dem Hund, der Hund dem Wolfe und so weiter?

Und wäre Pilpai nicht auf dieser langen Leiter

Doch wieder bis zum Sonnenball emporgestiegen,

Um schließlich ihm zu schenken jenes Liebesglück?

Und nun zu der Metempsychose noch zurück!

Sie zu beweisen, ist das Wunder des Brahminen

Sehr ungeeignet, ja es wird in ihm sogar

Ihre Unhaltbarkeit uns offenbar.

Nach dem System, dem jene Leute dienen,

Muß Mann, Maus, Wurm, kurz jeder seine Seele

Aus einem Schatz entnehmen, der gemeinsam Gut;

Und so – sofern ich mich im Folgern nicht verfehle –

Sind alle gleicher Art; Verschiedenheit beruht

In ihrer Konstitution allein:

Wie diese handelt, das bestimmt,

Ob einer sinkt, ob Höhen er erklimmt.

Hier darf der Einwand wohl berechtigt sein:

Warum vermochte jenes schönheitsvolle Wesen[167]

Von seiner Wirtin nicht so weit sich zu befrein,

Um sich der Sonne zu vermählen?

Wie kam's, daß sie ein Rattenvieh sich auserlesen?

Erwägt man alles Stück für Stück,

So sind der Mäuse Seelen und der Schönen Seelen

Doch voneinander gar verschieden,

Und eine jede muß in ihre Bahn zurück.

Das ist ein himmlisches Gesetz hienieden.

Besprecht den Teufel, treibt Magie auch noch so viel,

Ihr bringt kein Wesen ab vom vorbestimmten Ziel.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 164-168.
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